Vanessas Rache

Verfasst: 2024

Wörter: ~1600

 

Orangefarbene Sonnenstrahlen spiegeln sich auf dem glatten Asphalt der Autobahn. Im Radio läuft Musik, kein anderes Auto ist in Sicht. Tobi sitzt hinter dem Lenkrad, Manfred daneben mit einer Bierdose. Er nippt daran und stürzt das kühle Getränk herunter.

„Mann, schmeckt das gut!“
„Du hast leicht reden.“
„Komm schon, Tobi. Sei nicht gleich so angepisst! Nächstes Mal fahre ich, versprochen.“
„Das hast du letztes Mal auch gesagt.“
Manfred stellt die Bierdose zurück in die Halterung zwischen ihnen. „Du merkst dir Sachen …“
Die Autobahn beschreibt eine sanfte Kurve. An beiden Seiten beginnen Waldstücke, die Sonne verschwindet hinter den Baumwipfeln.
Tobi schaltet das Radio aus. „Tank ist leer.“
„Was?“ Manfred beugt sich hinüber. „Nicht dein Ernst. Fällt dir das erst jetzt auf?“
„Das Warnlicht habe ich vorher schon gesehen.“
„Wieso tust du dann nichts? Das ist dein Auto, Mann!“
„Tut mir leid.“ Tobi versteckt das Gesicht hinter der Hand. „Ich habe nicht mehr daran gedacht.“
„Wir sind gerade an einer Tankstelle vorbeigefahren!“
„Alter, halt mal die Schnauze. Bringt auch nichts, wenn du so rumschreist.“
Neben der Autobahn taucht eine schmale Ausfahrt auf. Sie führt auf einen Parkplatz mit einer WC-Anlage und angrenzenden Sitzbänken. Manfred streckt die Hand aus und zeigt hin. „Fahr zumindest noch bis zur Raststätte da vorne!“
Der Wagen wird langsamer. Tobi lenkt ihn auf den Pannenstreifen und kommt zum Stillstand. Die Einfahrt zur Raststätte ist nur wenige Schritte entfernt.
„Ein kleines Stück noch!“, fordert Manfred.
Tobi dreht den Schlüssel um, doch der Motor springt nicht wieder an. „Scheiße.“
„Das hast du toll hingekriegt …“
„Ja, danke. Ich habe schon gesagt, dass es mir leidtut. Ist ja eh meine Schuld.“ Er zieht den Schlüssel ab und legt ihn beiseite. „Im Kofferraum ist ein Kanister. Ich gehe zu Fuß zurück zur Tankstelle und hole uns Nachschub.“
Manfred beobachtet, wie er aussteigt. „Ist das nicht ein bisschen weit?“
„Quatsch, ich bin vielleicht in zehn Minuten dort. Dann Auffüllen und wieder zurück. Das habe ich in einer halben Stunde, höchstens.“
„Bis dahin ist es sicher schon dunkel.“
„Na und? Hast du eine bessere Idee?“
Manfred schnaubt. „Na gut, mach nur. Ich warte hier. Hoffentlich langweile ich mich nicht zu Tode.“

 

Minuten vergehen. Manfred dreht die Bierdose in der Halterung einmal im Kreis. Er richtet seinen Blick nach vorne. Die Raststätte liegt verlassen da. Baumwipfel wehen im Wind.
Manfred steigt aus und streckt sich. Das tut gut, sein Rücken schmerzt vom langen Sitzen. Nirgends ist ein anderes Fahrzeug. Nicht auf dem Parkplatz, nicht einmal auf der Straße. Jedenfalls ist in der Dämmerung keines zu erkennen.
Gelangweilt geht Manfred rund ums Auto. Er steigt bei der Fahrerseite wieder ein, macht sich auf dem weichen Sitz breit. Hier fühlt er sich irgendwie sicherer. Aber es kann ja nichts passieren. Angst vor der Dunkelheit? Er doch nicht!
Manfred lässt die Scheibe einen Fingerbreit runter. Kühle Abendluft weht hinein.

 

Kichern. Was war das? Auf dem Parkplatz steht jemand und winkt ihm zu. Eine junge Frau, vielleicht Anfang zwanzig. Sie hat lange, schwarze Haare, trägt ein rotes Sommerkleid und eine Umhängetasche. Manfred beobachtet mit großen Augen, wie sie sich nähert und neben der Fahrertür stehen bleibt.
„Hi! Wie geht’s?“ Sie beugt sich zu ihm und lächelt. „Schönes Auto!“
„Äh … danke! Sag mal, was machst du hier draußen?“
„Das wollte ich dich auch gerade fragen.“
„Also … ich bin hier mit einem Kumpel. Ist bald wieder da. Gab eine Panne. Und du? Bist du allein?“
„Nein, ich bin hier mit meinen Eltern. Unser Auto ist in der Nähe.“
Manfred blickt zur Raststätte, sieht immer noch kein geparktes Fahrzeug. Vermutlich ist es weiter weg. Als er zurückschaut, grinst sie.
„Ich bin Vanessa.“
„Manfred.“
„Ist da offen?“ Sie macht einen Schritt zur Tür hinter dem Fahrersitz.
„Na klar.“
Vanessa zieht am Griff, nimmt auf der Rückbank Platz. Manfred verrenkt sich, um sie anzusehen. Hübsches Gesicht. Und trainiert ist sie. Mit einer Hand umklammert sie die Tasche.
„Was ist denn die Panne?“ Sie sieht ihn mit schiefgelegtem Kopf an. „Vielleicht kann ich helfen.“
„Vergiss das mal. Um solche Dinge kümmern sich lieber wir Männer.“
„Aha.“
„Wie, aha?“
Vanessas Augen verengen sich. „Es gibt etwas, dass ich an Männern nicht ausstehen kann. Sie wissen alles besser und müssen immer das Sagen haben.“
„Was erzählst du jetzt für einen Blödsinn?“
„Noch nie beobachtet? Männer suchen sich gerne Frauen, die viel jünger sind. Um die Überhand zu haben.“
„Puh, ich weiß nicht. Das ist mir zu allgemein.“
„Ist es nicht. Es gibt genug Fälle … von Männern, die so sind. Auch der Freund meiner Schwester damals. Er hatte die Kontrolle über alles. Immer wieder ist sie zu mir gerannt, wenn es ihr zu viel wurde. Mehr als sie zu trösten, konnte ich nicht tun. Sie war gefangen. Machtlos. Das Schlimmste, was er ihr angetan–“
„Hey, beruhige dich mal! Mach dir nicht so viele Sorgen darüber“, unterbricht Manfred sie.
„Bist du auch so ein Mann? Der es auf junge Frauen abgesehen hat?“
„Nein, natürlich nicht!“
„Kluge Entscheidung.“ Vanessa öffnet ihre Tasche. „Weißt du, was sich auf Vanessa reimt?“
Klack. Eine Klinge blitzt in ihrer Hand auf. Nicht etwas Mickriges zum Aufklappen, nein, ein Springmesser.
„Pack das Messer wieder ein! Gegen mich kommst du nicht an.“
„Was hast du denn zu befürchten?“
„Gar nichts. Aber … du kannst nicht einfach Leute mit einem Messer bedrohen!“ Manfreds Wangen werden heiß.
„Ich wollte es nur herzeigen. Willst du mir das etwa verbieten?“
„Nein, ich … das war nur … ein Vorschlag.“
„Na gut. Reden wir über was anderes.“ Sie klappt das Messer wieder ein und lehnt sich nach vorne. „Lässt du mich wenigstens vorne sitzen?“
„Ähm …“
Sie versucht, zum Beifahrersitz zu klettern.
„Warte, geh lieber außen rum! Du wirfst sonst mein Bier um!“
„Meinetwegen.“
Die Tür fällt zu und Vanessa läuft zur anderen Seite des Autos. Manfred reagiert schnell und betätigt die Zentralverriegelung.
Nur Augenblicke später hat Vanessa die Beifahrertür erreicht. Sie zieht daran, rüttelt wie wild. „Was soll das? Lass mich rein!“
„Ich habe es mir anders überlegt. Es ist mir lieber, wenn wir uns so unterhalten.“ Manfred greift nach seinem Handy. Er tippt eine Nachricht an Tobi: Ruf sofort die Polizei, die Frau hat ein Messer!
„Was machst du da?“
Er lässt das Handy unter seinem Oberschenkel verschwinden. „Ich habe meinem Kumpel geschrieben.“
„Du verheimlichst mir etwas. Gib es zu!“
„Wieso sollte ich?“
Vanessa schlägt mit der Faust gegen die Scheibe. „Es ist so lächerlich. Du bist einer von denen! Und schaffst es nicht einmal, es zu verbergen. Dich interessiert gar nicht, was meine Schwester damals erleiden musste! Niemand redet mehr darüber, dass sie–“
„Halt endlich den Mund!“
Vanessas Arm schnellt vorwärts. Die Scheibe knackt. Hat sie mit dem Messer zugeschlagen? Ungläubig starrt Manfred auf den Sprung im Glas.
„Bist du jetzt wahnsinnig geworden?“, schreit er.
Sie starrt ihn nur an. Manfred will aufspringen, irgendetwas tun, doch er kann sich nicht bewegen. Plötzlich geht sie in die Hocke. Weg aus seinem Blickfeld.
Manfred schnappt nach Luft. Was hat sie vor? Er sucht nach seinem Handy. Seine Finger zittern, finden die richtigen Tasten für den Notruf kaum. Piepsen. Eine Stimme meldet sich: „Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?“
„Holen Sie schnell Hilfe! Da ist … sie hat ein Messer!“
„Bitte bleiben Sie ruhig. Wo befinden Sie sich?“
Lautes Krachen. Manfred zuckt zusammen. Das Handy fällt ihm aus der Hand. Vanessa steht draußen. Hinter dünnem Glas, nur eine Armlänge entfernt. Sie holt erneut aus, schlägt auf die Scheibe ein. Immer wieder und wieder. Schützend hält sich Manfred die Hände vors Gesicht. Es kracht, Scherben prasseln auf ihn ein.
Irgendwo in der Ferne ertönt eine Sirene. Manfred öffnet die Augen. Das Messer steckt in der Scheibe fest. Vanessa rüttelt daran, zieht es raus. Sie grinst ihn an. Dann geht sie in die Hocke.

 

„Sind sie verletzt?“ Das Gesicht der Polizistin wird von Scheinwerfern und Blaulicht erhellt.
Manfred sieht an sich herab. Überall winzige Glasscherben. „Ich glaube nicht.“
„Können Sie aussteigen?“
Unbeholfen klettert Manfred aus dem Auto. Er schüttelt die Scherben ab, seine Hände zittern dabei. Außer ihnen ist niemand in der Nähe. Keine Spur von Vanessa …
„Dann erzählen Sie mal, was passiert ist“, fordert die Polizistin.
„Da war ein Mädchen. Also, eine junge Frau. Wir haben nur geredet, ganz normal. Dann ist sie plötzlich durchgedreht.“
„Durchgedreht? Einfach so?“
„Ja! Wieso, glauben Sie mir nicht?“
Die Polizistin zeigt auf die kaputte Scheibe. „Das sieht nach einem Kampf aus. Wie ist es dazu gekommen?“
„Ich sagte doch, sie ist völlig durchgedreht! Wir haben nur geredet. Dann hat sie ein Messer hervorgeholt.“
„Was noch? Haben Sie sie berührt?“ Der Blick der Polizistin ist ernst.
„Nein, Sie verstehen das alles falsch! Ich habe ihr nichts getan!“
„Beruhigen Sie sich bitte.“
Manfred spürt, wie Schweiß über seinen Rücken läuft. Beruhigen? Das ist in dieser Lage unmöglich! Da fällt es ihm ein. „Tobi ist noch unterwegs! Er ist mit dem Kanister zur Tankstelle gegangen.“
Die Polizistin holt ein Funkgerät hervor. „Ich werde es meinen Kollegen sagen. Sie sind schon auf dem Weg. Bleiben Sie bitte hier.“
Schleppend langsam verstreichen die Minuten. Die Polizistin inspiziert das Auto von allen Seiten, spricht gelegentlich ins Funkgerät.
Manfreds denkt an Tobi. Hoffentlich ist er längst auf dem Rückweg. Wie soll er ihm erklären, was mit dem Auto passiert ist?

Die Polizistin wendet sich zu ihm. Ihr Gesichtsausdruck ist im schwachen Licht kaum zu erkennen. „Wir haben einen Kanister am Straßenrand gefunden.“