Frachtschiff

Verfasst: 2018

Wörter: ~1400

 

Quietschend rollen die Räder des Servierwagens über den gefliesten Boden. Zwei Gestalten manövrieren ihn durch den schmalen Korridor, dessen Wände mit groben Fenstern durchlöchert sind. Sie bieten eine spektakuläre Aussicht auf das weite Meer und die anderen Verbindungsgänge, die den Abstand zwischen dem Frachtschiff und dem Passagierschiff überbrücken.

„Glaubst du, wir sind vor dem Chef da?“, durchbricht der Eine die Stille.

„Möglich“, antwortet der Andere. Seine dünnen Finger halten den Haltegriff des Servierwagens fest umschlossen.

„Ich bin schon gespannt, was unsere nächste Lieferung sein wird“, meint der Eine.

„Blöde Frage. Bestimmt noch mehr von diesem Zeug.“

„Wahrscheinlich. Wir transportieren ja nichts anderes mehr, seitdem das Frachtschiff hier angelegt hat. Findest du das nicht auch komisch? Warum verweilen zwei gigantische Schiffe, eines mit Passagieren und eines mit Gütern, für mehrere Tage auf offenem Meer?“

„Wir sollten uns darüber lieber nicht zu viele Gedanken machen. Uns wurde ja gesagt, wir haben uns nicht damit zu beschäftigen. Es geht uns nichts an. Also lassen wir das lieber.“

Mittlerweile haben die zwei den Aufzug erreicht, der unweit vom Restaurant des Frachtschiffes entfernt liegt.

„Pass auf, ich zeig dir einen Trick!“, meinte der Eine grinsend und greift nach der Stockwerkstaste. Er hält sie gedrückt, obwohl die Lifttüren bereits geöffnet sind.

„Wenn ich das mache, kann der Chef seinen Lift nicht bedienen!“

„Das macht gar keinen Sinn. Er fährt doch mit einem ganz anderen Aufzug?“

„Ok. Wie du meinst.“

Die beiden Typen schieben den Servierwagen in die Aufzugskabine und warten, bis sich die Lifttür geschlossen hat. Oben angelangt sehen sie gerade noch, wie der Chef aus dem anderen Aufzug tritt.

„Fast! So knapp“, ärgerte sich der Eine, während sie aus der Aufzugskabine treten.

„Ihr seid schon hier? Das ist ja geschichtenhaft“, begrüßt sie der Chef, als sie mit dem Servierwagen zwischen den Tischen stehen bleiben. „Ich habe direkt einen neuen Auftrag für euch. Den letzten für heute.“

Der Chef deutet auf einen Tisch mit einer großen Zahl an gefüllten Gläsern darauf und reicht den Jungen einen Zettel.

„Bringt diese Lieferung ins oberste Restaurantdeck. Die Bestellung steht hier nochmal, 30 Gläser Minze prickelnd und zehnmal das rote Zeug. Das heißt für euch: Gut aufpassen und bloß nicht den Wagen umkippen. Sonst sind wir 45 Millionen ¤ auf einen Schlag los. Verstanden?“

Die zwei Typen nicken wortlos und beginnen damit, die Gläser vorsichtig auf den Servierwagen zu laden.

„Lasst euch bloß Zeit! Nur nichts überstürzen, ihr habt genug Zeit für diesen Auftrag. Denkt daran: 45 Millionen! Die ziehe ich euch persönlich ab, dann müsst ihr für den Rest eures Lebens hungern. Ok, das war vielleicht etwas zu gemein. Entschuldigt.“

Sobald die Jungs fertig waren, setzen sie den Servierwagen langsam in Bewegung. Am Ausgang gehen sie durch die Kontrolle und zeigen die Rechnung der Rezeptionistin.

„Passt schon. Ihr könnt durch“, gibt sie knapp zurück und öffnet den Schranken. Knirschend kullern die Räder des Wagens über den Boden.

„Glaubst du, wir dürfen auch mal von diesen … speziellen Getränken kosten? Ich wollte das immer schon probieren“, sagt der Andere plötzlich, als sie weit genug vom Restaurant entfernt sind.

„Spinnst du? Wir sind doch nur wertlose Hilfskräfte. Das Zeug ist nur für die reichsten Leute bestimmt. Obwohl ich auch gerne wüsste, was die genau damit machen.“

„Die trinken die das einfach, oder? Würde ich zumindest sagen. Ist doch naheliegend, für ein Getränk. Findest du nicht?“

„Ja, das ist mir schon bewusst. Aber welches Getränk ist so viel wert? Überleg mal, das geht in die Millionen! Welcher normaldenkende Mensch gibt so viel für ein Getränk aus?“

„Reiche Leute.“

„Denk doch mal nach. Das sind bestimmt keine normalen Getränke. Da ist doch irgendwas drin, was das Zeug unwiderstehlich macht. Überleg mal: Wie viele Lieferungen haben wir getätigt, seitdem das Schiff angelegt hat?“

„Ungefähr … 20 pro Tag? Mit heute wären das dann 80.“

„Und wie viele Gläser sind das?“

„Zwischen 40 und 60 pro Lieferung. Sagen wir 50 im Durchschnitt.“

„Das sind zirka 4000 Gläser. In den letzten vier Tagen. Wer trinkt das alles bitte?“

„Gute Frage. Wie viele Passagiere sind dort drüben?“

„Genau darauf will ich hinaus. Ich weiß es auch nicht. Aber was glaubst du? Sind es hunderte? Ein tausende?“

„Sind wir eigentlich die einzigen, die die Gläser hinübertragen?“

„Die einzigen von unserem Restaurant. Aber deine Frage ist berechtigt. Siehst du die ganzen anderen Verbindungsgänge?“

Aus dem Fenster sind die unzähligen anderen Brücken zu erkennen.

„Es gibt noch andere Restaurants. Die sind auch für die Passagiere.“

„Aber sind wirklich alle Passagiere so reich? Ich glaube, das betrifft nur die aus den oberen Decks.“

„Das mag sein. Aber ich will wissen, wie viele Gläser so ein durchschnittlicher reicher Schnösel am Tag zu sich nimmt. Vier? Zehn? 40?“

„Wie willst du denn bitte 40 Gläser am Tag trinken? Das sind ja 10 Liter oder so.“

„Vielleicht trinken die das Zeug auch gar nicht. Wer weiß.“

„Oder sie lagern es irgendwo.“

„Das könnte natürlich auch sein. Ach, du meine Güte! Stell dir vor, jemand findet das. Alles würde auffliegen. Wir und der Rest der Crew! Das wäre bestimmt der größte Schwindel des 23. Jahrhunderts.“

„Nein, nichts kann den Erdgasschwindel übertreffen.“

„Na gut, aber einer der größten Schwindel des Jahrhunderts. Davon bin ich überzeugt.“

Die zwei erreichen endlich das Restaurant am anderen Ende des Verbindungsganges. Nun befinden sie sich im Passagierschiff. Vor dem Lokal steht ein Kellner, der sie bereits erwartet.

„Ah, da ist ja schon die Lieferung“, spricht er ohne Begrüßung. „Ich nehme euch den Wagen schon mal ab und bringe ihn zu den Gästen. Ihr dürft jetzt gehen. Nehmt einfach diese Tür da.“

Der Kellner deutet auf eine Tür neben ihm, bevor er den Servierwagen ergreift und ihn behutsam ins Restaurant rollt. Die zwei Jungen beobachten ihn nicht lange und gehen geradewegs auf die besagte Tür zu. Dahinter befindet sich ein fensterloses Treppenhaus, das viele Stockwerke nach unten führt.

„Wo führt uns dieser Weg bloß hin?“, fragt der Eine plötzlich.

„Ich dachte, du weißt, wo wir hingehen!“

„Ich dachte, du weißt es.“

„Ach, egal. Irgendwo werden wir schon hinkommen. Wichtig ist nur, dass wir zu unseren Kabinen drüben im Frachtschiff finden …“

Als die zwei eine weitere Tür erreichen, sind sie bereits tief nach unten gestiegen. Neugierig passieren sie den Durchgang und finden sich in einem engen Gang mit beigefarbenen Metallwänden wieder.

„Hier ist ein Fenster!“, bemerkt der Andere und deutet auf ein winziges Bullauge neben ihnen. Durch das angelaufene Glas sind das Meer und das gegenüberliegende Frachtschiff zu erkennen. Den beiden fällt auf, dass sie so viele Stockwerke nach unten gegangen sind und sich immer noch so weit über dem braunen Wasser befinden.

„Schau, da drüben!“, sagt der Eine. „Ist das ein Verbindungsgang?“

Er deutet auf einen sonderbar anmutenden Schlauch, der sich nicht weit entfernt zu ihrer Rechten befindet. Er erstreckt sich bis zu einer tief gelegenen Stelle am Frachtschiff und scheint innen hohl zu sein.

„Vielleicht kommen wir so zur anderen Seite. Unsere Kabinen sind auch sehr weit unten, dann haben wir keinen weiten Weg mehr!“

Damit dreht sich der Eine um und folgt dem bedrückenden Flur. Gemeinsam mit dem Anderen bahnt er sich einen Weg durch den eigenartigen Gang, der sich wie der Darm eines Wals in alle Richtungen windet. Nach einer scharf gekrümmten Kurve führt der Korridor plötzlich steil nach unten und gewinnt gleichzeitig deutlich an Höhe. In diese kleine Halle mündet ein weiterer Gang, der besonders hoch und schmal ist. Er endet sofort nach wenigen Schritten. In dieser Sackgasse befindet sich eine runde Metallklappe, die wie ein Fenster erst in Hüfthöhe beginnt. Auch sie ist mit beiger Farbe lackiert und wirkt nicht größer als ein kleiner Safe. Der Eine streckt seine Hand aus und lässt die kleine Tür nach außen aufschwingen. Dahinter kommt tatsächlich das Innere des seltsamen Schlauchs zum Vorschein.

„Das ist unsere Rettung. Du zuerst!“, befiehlt der Eine. Ohne zu zögern zwängt sich der Andere durch die schmale Öffnung und zieht sich mühsam vorwärts.

„Ich weiß nicht … hier ist es ganz schön eng!“, ruft er dem Einen zu. Die Angst in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

„He! Wer ist da?“, schreit plötzlich jemand von oben. Der Eine zuckt panisch zusammen. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass sie hier nichts zu suchen haben. Sofort bricht ihm der Schweiß aus. Laute Schritte nähern sich. Bald werden sie entdeckt. In letzter Sekunde packt der Eine die Beine des Anderen, stößt ihn ins Innere des Schlauchs und verschließt die Metalltür.