Gefangen in der Unendlichkeit

Verfasst: 2013 – 2015

Wörter: ~2300

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hüllten den herbstlichen Laubwald in ein entspannendes, rötliches Licht. Phillip saß in der Krone eines mächtigen Ahornbaumes und dachte verträumt über sein Leben nach. So oft es möglich war, ging er in diesen Wald, um vom Alltag loszukommen und alleine und in Ruhe über seine Sorgen nachzudenken.

Die Schulzeit hatte vor ein paar Wochen wieder begonnen und Phillip war nun Schüler einer zweiten Klasse der Oberstufe. Seine Klassenkameraden hatten ihn in der Vergangenheit immer wieder ausgeschlossen und nicht akzeptiert. Phillip hatte auch eine Vermutung, weshalb das so war: Er hatte eine völlig andere Vorstellung von Freizeitgestaltung. Während seine Mitschüler abends fortgingen und tagsüber nur mit ihren Smartphones beschäftigt waren, ging Phillip viel lieber in den Wald zum Entspannen und Nachdenken. Er wollte auch gar nicht so leben wie die anderen. Er wollte sich nur wohlfühlen und das tun, was ihm Spaß machte.

Das Schaukeln des Baumes im Wind war hier oben deutlich zu spüren. Das Rauschen der Blätter wirkte sehr beruhigend, herbstlicher Geruch lag in der Luft. Ein eisiger Windstoß blies in Phillips Gesicht, drang unter seine Kleidung und verursachte eine kribbelnde Gänsehaut. Da ihm nach einer Weile zu kalt wurde, kletterte er wieder nach unten.

Es war bereits später Abend geworden und die dichten, hohen Baumkronen versperrten Phillip die Sicht auf den Himmel, der von der Sonne immer noch rötlich gefärbt sein musste. Der Boden war übersät von einem Meer aus roten, gelben und orangen Blättern, die von den Bäumen gefallen waren. Phillip beschloss, wieder nachhause zu gehen, da es schon sehr spät war.

Er betrachtete die Baumstämme, an denen er vorbeikam, und stellte sich vor, wie der flüssige Lebenssaft darin vom üppigen Boden bis in die Baumwipfel strömte. Vor dem nächstgelegenen Stamm blieb er stehen, schloss die Augen und legte seine Hand darauf. Er glaubte, deutlich spüren zu können, wie die warme, lebensnotwendige Flüssigkeit durch die dicken Adern des mächtigen Baumriesen floss.

Während Phillip über den samtweichen Waldboden spazierte, fing er wieder an, nachzudenken. Warum akzeptierte ihn niemand so, wie er war? Dadurch wäre sein Leben viel einfacher.

 

Als allmählich die Nacht hereinbrach, erreichte Phillip endlich sein Elternhaus. Er wohnte, seit er sich zurückerinnern konnte, in diesem Altbau aus dem späten 19. Jahrhundert, der seinen Adoptiveltern gehörte.

Phillip öffnete die Haustür, trat ins Vorzimmer und hängte seine Jacke auf. Danach begrüßte er seinen Adoptivvater Bernhard, der müde von der Arbeit auf dem Sofa lag und fernsah. Phillips Mutter Julia war noch nicht zuhause und Bernhard schien nicht bereit zu sein für ein ausführliches Gespräch. Er hatte wieder einmal einen langen Arbeitstag im Forschungsinstitut für Geologie und Biologie hinter sich. Also verließ Phillip das Wohnzimmer, um seinem Vater Ruhe zu gönnen.

Phillip schaltete das Licht im Stiegenhaus ein, stieg die Treppe hinauf und ging durch den Flur geradewegs auf seine Zimmertür zu. Als er am Arbeitszimmer seines Vaters vorbeikam, fiel ihm auf, dass die Tür einen Spalt weit geöffnet war. Phillip blieb abrupt stehen. Diese Tür war seit Jahren jeden Tag verschlossen. Sie war so gut wie niemals geöffnet; selbst wenn sein Vater darin arbeitete, sperrte er sie immer zu. Neugier machte sich in ihm breit. Er wollte unbedingt wissen, wieso dieses Zimmer für seinen Vater so wichtig war. Phillip war erst ein einziges Mal in diesem Raum gewesen.

Damals war er acht Jahre alt und sein Vater hatte an diesem Tag gesagt, dass er mit ihm etwas sehr Wichtiges zu besprechen habe. Bernhard hatte ihm erklärt, dass er und Julia nicht seine leiblichen Eltern seien, sondern dass er adoptiert worden war. Seine echten Eltern seien bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen, als er erst drei Monate alt war. Für Phillip war an diesem Tag vor acht Jahren eine Welt zusammengebrochen. Seitdem fühlte er sich plötzlich so distanziert von seinen Adoptiveltern, weil er jetzt wusste, dass sie nicht seine eigenen sind. Früher hatte er nicht gewagt, daran zu zweifeln, aber irgendwie hatte er sich nie richtig zuhause gefühlt. Glücklicherweise hatte Phillip diesen Schock längst überwunden. Trotzdem kam es ihm heute immer noch so vor, als würde es niemanden geben, mit dem er sich verstand und dem er wirklich vertrauen konnte.

Bald konnte Phillip dem Ziehen in seiner rechten Hand nicht mehr widerstehen und streckte sie nach der Tür aus. Es war, als würde er einem tierischen Instinkt folgen, als seine zitternden Finger das alte, hölzerne Türblatt berührten. Während er es langsam nach innen aufschwingen ließ, vernahm er plötzlich ein leises Geräusch im Flur. Hastig drehte sich Phillip um und spähte nach links und nach rechts in den Gang – sein Adoptivvater war nirgends zu sehen. Vermutlich befand er sich immer noch unten im Wohnzimmer und sah fern. Phillip atmete tief durch und drückte vorsichtig den Lichtschalter im Arbeitszimmer. Er betrat voller Neugier den Raum, der kleiner war, als er ihn in Erinnerung hatte. Hier befanden sich nur ein paar Regale, ein Schrank und ein moderner Schreibtisch aus Kiefernholz am Fenster.

Phillip spürte seinen Herzschlag bis zum Hals, während er sich dem Schreibtisch in der Mitte des Raumes näherte. Als er sich nur noch wenige Zentimeter vom Tisch entfernt befand und die Schubladen schon in Griffweite waren, zögerte er kurz. Was suchte er hier überhaupt? Sein Vater hatte ihm verboten, ohne Erlaubnis in dieses Zimmer zu gehen. Außerdem könnte er jeden Moment hereinkommen und ihn schwer bestrafen. Aber wie wahrscheinlich war es, dass das passieren würde? Immerhin saß Bernhard ziemlich sicher noch vor dem Fernseher und würde im Normalfall frühestens erst in einer Stunde nach oben gehen. Aber wieso hatte er dann die Tür offen gelassen? Bisher hatte Phillip noch nie gesehen, dass Bernhard sein Arbeitszimmer einfach unverschlossen verlassen hatte. Aber vielleicht kommt er ja in ein paar Minuten wieder und hat in der Eile einfach vergessen, die Tür zu schließen?

Plötzlich begannen kalte Schweißtropfen von Phillips Stirn über sein Gesicht zu perlen. Möglicherweise blieb ihm jetzt nur ein kleines Zeitfenster, in dem er nach Gegenständen suchen konnte, die sein Vater vor ihm versteckte. Natürlich konnte er sich auch irren, denn es deutete nichts darauf hin, dass sein Adoptivvater etwas vor ihm zu verbergen hatte. Er würde vielleicht gar nichts finden, aber es war einen Versuch wert.

Mit angehaltenem Atem streckte Phillip seine schweißnasse Hand nach der obersten Schublade aus. Langsam zog er am Metallgriff der Lade aus Kiefernholz, doch er konnte nicht verhindern, dass sie vernehmbar knirschte. Phillip kniff die Augen zusammen und wartete auf den mahnenden Schrei seines Vaters, der vom Erdgeschoss zu ihm heraufdrang. Doch stattdessen blieb es im Haus ruhig. Erleichtert atmete Phillip auf. Seine ständige Angst machte ihm sehr zu schaffen. Wieso konnte er sich nicht einfach beruhigen? Er war immer darauf vorbereitet, dass ihn jede Sekunde ein wildes Tier von hinten anspringen und seine messerscharfen Reißzähne in sein saftiges Genick schlagen könnte. Verwirrt schüttelte Phillip den Gedanken ab und wandte sich wieder der Lade zu. Sie war anscheinend lange nicht mehr geöffnet worden, da sie sich nur schwer herausziehen ließ. Im Inneren befand sich ein dicker Stapel mit ausgeschnittenen Zeitungsartikeln und Titelseiten von alten Magazinen. Ganz oben lag ein Titelblatt einer Tageszeitung, dessen Datum zehn Jahre in der Vergangenheit lag. Phillip vergewisserte sich erneut, dass sich niemand im Flur befand und begann dann mit einem unwohlen Gefühl im Magen den Stapel zu durchblättern. Die Zeitungsausschnitte waren nach dem Datum sortiert; je tiefer Phillip vordrang, umso älter wurden sie.

2004, 2003, 2002, ... Unter den einzelnen Zeitungsberichten fand Phillip nur wenige, die er interessant fand. Wieso hat Bernhard diese Zeitungen gesammelt? War er etwa unterbeschäftigt? Und wenn ja, weshalb hat er vor zehn Jahren damit aufgehört?

...2001, 2000, 1999. Ein Artikel stach Phillip plötzlich ins Auge. Er war nicht sehr sorgfältig ausgeschnitten, man konnte noch erkennen, dass unter der Schlagzeile ein Schwarz-Weiß-Foto gewesen sein musste. Der Bericht selbst war auch weggeschnitten. Nur die Schlagzeile war deutlich zu lesen:

 

Sensationelle Entdeckung: Eingefrorener menschlicher Körper in Eishöhle gefunden!

 

Es war beängstigend, dass dies der einzige Artikel in der Schublade war, der aus einer regionalen Zeitung stammte. Aber was Phillip noch mehr beunruhigte, war das Datum der Zeitung: Der 2. September 1999. Sein Geburtsdatum.

„Phillip! Was machst du hier?“

Ein gewaltiger Schrecken durchfuhr ihn. Beinahe wäre Phillip mit seinem Kopf an der Tischkante angestoßen. Schweißgebadet richtete er sich auf und blickte erschrocken seinen Vater an.

„Phillip, ich habe dir doch verboten, in mein Arbeitszimmer zu gehen!“, schimpfte Bernhard verärgert. „Was hast du in deiner Hand? Hast du das etwa aus meinem Schreibtisch genommen?“

Phillip streckte seine zitternde Hand aus und zeigte Bernhard den Zeitungsartikel.

„Ach, Phillip...“, begann Bernhard plötzlich mit einem traurigen Ton in der Stimme. „Das hätte ich dir schon viel früher erzählen sollen.“

Phillip wurde hellhörig. Gab es etwa noch ein Geheimnis über ihn, worüber er sein ganzes Leben lang nichts gewusst hatte?

„Mein Sohn, bitte setz dich. Ich habe dir etwas Wichtiges zu berichten.“

Phillip gehorchte und nahm auf dem Schreibtischstuhl seines Vaters Platz.

„Ich werde dir jetzt erklären, was dieser Zeitungsartikel bedeutet“, begann Bernhard. „Vor 16 Jahren habe ich mit zwei Arbeitskollegen eine Höhlenforschung im Auftrag vom Forschungsinstitut für Geologie und Biologie unternommen. Wir mussten eine Eishöhle in den Alpen besichtigen, die vor uns noch nie jemand genauer untersucht hat. Ich rede von der Höhle, die in diesem Zeitungsbericht beschrieben wird.“

Bernhard wies auf das Stück Papier, das Phillip immer noch in den Händen hielt.

„In der Höhle haben wir einen menschlichen Körper gefunden, der hinter einer meterdicken Eisschicht eingeschlossen war. Es war der Körper eines Neugeborenen, der höchstens drei Monate alt war. Niemand von uns konnte sich erklären, wie der Mensch dort hingelangen konnte. Aber natürlich haben wir uns dazu entschlossen, ihn aus der Höhle zu befreien.

Nach ein paar Tagen hat das Forschungsinstitut eine weitere Entdeckung gemacht: Der Mensch, den wir in der Höhle gefunden haben, war noch am Leben. Das Eis hatte seinen Körper wie durch ein Wunder nicht zerstört. Das hatte natürlich niemand erwartet. Aber deine Mutter und ich haben einen Entschluss gefasst. Wir haben uns dazu bereit erklärt, diesen Menschen aufzunehmen und wie einen eigenen Sohn großzuziehen.

Dieser Mensch warst du, Phillip. Es war nicht einfach, unseren Wunsch durchzusetzen. Aber du wurdest gesund und wir konnten dir ein Leben in einer Familie ermöglichen.“

Phillip starrte ungläubig an die Wand. Er war in einer Eishöhle eingefroren?

„Deine leiblichen Eltern sind nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Wahrheit ist, dass niemand genau weiß, wer sie waren. Es tut mir so leid, dass ich dich angelogen habe“, fügte Bernhard hinzu, da Phillip nicht antwortete. Doch nach wenigen Augenblicken hatte sich Phillip wieder gefasst und stellte seinem Vater eine Frage:

„Und wie lange war ich in dieser Höhle eingefroren?“

„10.000 Jahre.“

Phillip erstarrte. 10.000 Jahre?! Unmöglich. Das würde doch bedeuten, dass er ein Steinzeitmensch war. Und das war kaum vorstellbar.

„Wenn ich zehntausend Jahre alt bin, wieso verhalte ich mich dann wie ein ganz normaler moderner Mensch von heute?“, fragte Phillip fassungslos.

„10.000 Jahre sind für die Evolution kein Zeitraum. In dieser Zeit haben sich die Menschen genetisch kaum verändert“, erklärte Bernhard.

„Und wie kann ein Lebewesen überhaupt so lange eingefroren sein, ohne zu sterben?“

„Das können Wissenschaftler bis heute nicht erklären. Auch ich wüsste gerne eine Antwort.“

Phillip lehnte sich nach vorne und vergrub seinen Kopf in den Händen. Er wusste nicht, wie er mit diesem Wissen umgehen sollte.

„Es ist schon sehr spät. Du solltest dich jetzt ins Bett legen und etwas ausruhen“, meinte sein Vater. „Ich glaube, das war zu viel Information auf einmal.“

„Du hast Recht“, sagte Phillip, stand auf, und verließ mit kurzen Schritten das Arbeitszimmer.

 

Phillip kroch in sein Bett und deckte sich bis über den Kopf zu. Er musste andauernd an die neuen Informationen denken, die ihm Bernhard heute erzählt hatte.

Er war also ein Steinzeitmensch, der 10.000 Jahre lang in einer Eishöhle eingefroren war. Aber warum verhielt er sich dann so wie ein moderner Mensch von heute? Nach einigem Nachdenken stellte Phillip fest, dass das gar nicht stimmte. Es war ihm immer schon schwergefallen, sich an das alltägliche Leben anzupassen und sich so zu verhalten wie jeder andere. Er war der Natur viel mehr verbunden und hatte sogar eine Art tierischen Instinkt, über den sonst niemand verfügte.

Jetzt machte alles einen Sinn. Phillip war kein Mensch, der für die heutige Zeit geschaffen war. Deshalb fühlte er sich auch im Wald viel wohler als in Häusern oder Städten. Er war einfach dazu geboren worden, im Einklang mit der Natur zu leben. Auf die Jagd zu gehen. Im Freien zu übernachten. Und sich von Beeren und anderen Früchten zu ernähren.

Phillip wollte kein normales und langweiliges Leben führen, das nur aus Schule, Straßenlärm, Fernsehen und ewigem Herumsitzen bestand. Das bedeutete für ihn keine Freiheit! Er wollte ein Abenteuer in der unberührten Wildnis erleben. Ein Abenteuer, das sein ganzes restliches Leben dauerte. Doch war das in der heutigen zivilisierten Welt überhaupt noch möglich?

Mit diesen Gedanken beschäftigte sich Phillip noch tief in die Nacht hinein. Nach drei Stunden fiel er schließlich in einen unruhigen Halbschlaf.

 

Am nächsten Morgen kam Phillips Mutter Julia in sein Zimmer.

„Phillip, du musst aufstehen! Hast du den Wecker nicht gehört?“

Sie zog die Decke vom Kopfpolster, aber das Bett war leer. Im nächsten Moment wurde sie auf den frostigen Luftzug aufmerksam, der vom Fenster hinüberwehte. Es war einen Spalt weit geöffnet. Besorgt trat Julia vor das Fenster und blickte hinaus in den endlosen Laubwald. Ihr Sohn wird doch nicht schon wieder im Schlaf gewandelt sein ...

Der herbstlich gefärbte Wald erstreckte sich bis zum Horizont, der aus den schroffen Gebirgskämmen der Alpen bestand. War ihr Sohn etwa in den Wald hineingelaufen? Nein, unmöglich. Warum sollte er das tun?

Andererseits war Phillip ein sehr naturverbundener Mensch. Einmal hatte er sogar gesagt, dass er sich in diesem Wald viel freier und wohler fühlte als zuhause.

 

Julia kämpfte mit den Tränen, als sie das Fenster schloss und den eisigen Luftzug unterbrach. Sie wusste nicht genau, was im Kopf ihres Sohnes vorging, aber sie hatte das Gefühl, dass er wohl nie wieder zurückkehren würde ...