Die letzte Busfahrt

Verfasst: 2017 – 2018

Wörter: ~2800

 

Noch fünf Haltestellen. Dann bin ich zurück beim Busterminal und muss nur mehr in die Garage fahren. Endlich nachhause gehen und mein wohlverdientes Wochenende genießen – ich kann es kaum mehr erwarten.

Ewig pendeln die Scheibenwischer hin und her. Ein hypnotisierender Anblick. Dabei brauche ich meine Konzentration, um zu fahren. Geistesgegenwärtig umschließen meine Hände das Lenkrad, bis ich spüre, wie sich meine Fingernägel ins Fleisch bohren. Ich kann jetzt nicht müde werden. Es ist doch erst 19 Uhr. Stockdunkel ist es draußen aber trotzdem, wie es im November gewöhnlich ist. Um diese Uhrzeit steigen besonders wenige Leute ein. Während der letzten Fahrt habe ich meistens sehr wenige oder nur einen einzigen Fahrgast auf dieser Strecke.

Müde hängen die knorrigen Buchenäste über die Straße. Sie gehören den jahrhundertealten Bäumen des Stadtparks. Der Regen lässt sie gleichmäßig nach unten wippen, gemeinsam mit den zerrenden Windstößen entsteht fast schon ein bedrohlicher Anblick. Auf mich wirkt er jedoch längst vertraut, schließlich bin ich hier bereits unzählige Male bei allen denkbaren Wetterlagen vorbeigefahren. Weiter vorne in der Kurve kann ich die alte Holzbrücke erkennen. Hier verlief diese Buslinie früher, vor dem schrecklichen Unfall. Wie lange ist das schon her? Ich war noch Schüler damals, also mindestens 20 Jahre …

Ein kräftiges Rütteln schreckt mich aus meinen Gedanken. Im selben Augenblick erkenne ich, was ich angestellt habe: Ich fahre über die Holzbrücke! Wie konnte das passieren? War ich wirklich so stark abgelenkt? Die dunklen Fluten des Baches spiegeln sich im Fenster. Ich kann nicht verhindern, dass sich Panik in mir breitmacht. Hier ist es viel zu eng, um umzudrehen. Den Bus auf die richtige Route zurückzubringen ist im Moment unmöglich. Verärgert schüttle ich diese Vorstellung ab. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Ich habe alles im Griff. Bestimmt gibt es bald eine Gelegenheit, zu wenden.

Das Rattern der Reifen auf dem hölzernen Übergang erstirbt, als ich die Schotterstraße am anderen Ufer erreiche. Sie wird umzingelt von schaurigen Bäumen, die sich wie gierige Kreaturen über mir auftürmen. Mein Blick wandert zum Funkgerät. Soll ich der Zentrale über meinen Fehler Bescheid geben? Diesen Gedanken finde ich beunruhigend. Nein, noch ist nichts Schlimmes passiert. Ich werde mich nur kurz verzögern. Es muss eine Möglichkeit zum Wenden geben. Ganz bestimmt! Denn vor 20 Jahren, bevor der Unfall geschah, war hier eine Buslinie. Irgendwo müssen die Fahrzeuge wieder umgedreht haben.

Zunehmend verdichten sich die massigen Bäume und bilden nahezu einen Tunnel über dem Schotterweg. Die Dunkelheit des Waldes und die prasselnden Regentropfen auf der Frontscheibe erschweren meine Sicht. Je undurchlässiger und üppiger der Forst um mich herum wird, umso unwohler wird mir zumute. Wohin führt diese Straße bloß?

Minuten später lichtet sich endlich die von Bäumen erdrückte Straße. Erleichtert atme ich auf, während ich den Bus langsam auf einen breiten Platz zurollen lasse. Umgeben wird er von niedrigen Sträuchern an der linken Seite und einem edlen, schwarz lackierten Gartenzaun, der sich über die gesamte Breite des Platzes erstreckt. Ein prunkvolles, ausladendes Flügeltor ist darin eingelassen. Es ist fast vollständig geöffnet und blockiert deshalb einen großen Teil des Platzes. Zögernd halte ich und betrachte die Situation genauer. Hinter dem Tor führt ein Kiesweg zu einer gut 50 Meter entfernten Villa. Aufgrund des Regens und der Dunkelheit kann ich kaum Details des Gebäudes ausmachen. Seine prächtig verzierte Fassade deutet gemeinsam mit den zertrümmerten Fensterläden auf vergangenen Reichtum hin. Es macht jedenfalls einen luxuriösen, aber auch heruntergekommenen Eindruck auf mich. Bestimmt wohnt hier niemand mehr.

Nach einer gründlichen Begutachtung des Platzes beschließe ich, einen Wendeversuch zu starten. Ich taste mich behutsam nach links vor und behalte dabei das mächtige Gartentor im Auge. Es scheint lange nicht mehr benutzt worden zu sein, seine Unterseite ist bereits mit Gestrüpp zugewachsen und kaum mehr vom Waldboden zu unterscheiden.

Mir fehlt lediglich ein kleines Stück nach vorne. Noch kann ich nicht den Rückwärtsgang einlegen, das Fahrzeug ist einfach zu lang. Wie konnten die Busse hier früher bloß wenden? Wahrscheinlich war diese Stelle damals noch nicht überwuchert. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mitten in die niedrigen Sträucher zu fahren. Nur mehr ein ganz kleines Stück …

Plötzlich ein Ruck. Das gesamte Fahrzeug macht schlagartig einen Satz nach vorne. Ich höre kreischendes Metall, knackende Sträucher. Alarmiert drücke ich Bremse durch, klammere mich am Lenkrad fest. Bis zum Hals spüre ich meinen Herzschlag. Mein Rücken ist schweißüberströmt. Panisch starre ich aus der Frontscheibe, die Augen weit aufgerissen. Nur nasses Gestrüpp und Dunkelheit ist zu erkennen. Der Bus bewegt sich keinen Millimeter. Instinktiv weiß ich, dass etwas nicht stimmt. Benommen befreie ich mich aus meiner Starre und erhebe mich aus meinem Sitz.

Als ich über die Türschwelle nach draußen treten will, fällt es mir sofort auf. Das gesamte Fahrzeug ist leicht nach vorne geneigt. Schlimmes ahnend springe ich auf den klatschnassen Waldboden und beginne, die Lage genauer zu inspizieren. Während schwere Tropfen auf mich niederprasseln und meine Haare und Kleidung durchnässen, erblicke ich das Chaos. Was ich zuvor für niedrige Sträucher gehalten habe, ist ein dichtes, tief gelegenes Gewächs. Mit dem Bus bin ich über die Kante eines Abgrundes gerollt, der mit jenen Pflanzen überwuchert ist. Bis über den höher gelegenen Boden ragen sie hinaus, somit verbergen sie die Sicht auf die plötzliche Kante. Entsetzt schlage ich meine Hände über den Kopf zusammen. In dieser verkeilten Lage ist es unmöglich, den Bus ohne fremde Hilfe aus der Schlucht zu bringen. Zitternd klettere ich zurück ins Fahrzeuginnere, meine Gedanken rasen. Ich kann nicht fassen, was mir widerfahren ist. Das alles wäre nicht passiert, wäre ich konzentriert geblieben! Allein ich trage die Schuld. Ratlos blicke ich auf das Funkgerät. Ich muss die Zentrale über meinen Fehler informieren. Es gibt keinen Ausweg mehr. Ich bin schuldig.

„Hallo? Der Fahrer von Linie 8 spricht, ich hatte einen Unfall. Bitte melden!“, stottere ich ins Mikrofon. Ich schließe die Augen und versuche, neue Kräfte zu sammeln. Was habe ich nur getan?

„Fahrdienststelle hier. Bitte bewahren Sie Ruhe. Wo befinden Sie sich?“, dringt eine vertraute, tiefe Stimme aus dem Funkgerät. Ich gebe mir einen Ruck und berichte: „Ich bin von der planmäßigen Strecke abgekommen. Der Bus steckt im Wald fest, er ist über einem Abgrund hängen geblieben. Alleine komme ich hier nicht mehr weg. Bitte holt Hilfe!“

Den letzten Satz bringe ich kaum mehr heraus, weil sich in meinem Hals ein Kropf gebildet hat. Wie soll ich bloß erklären, warum ich hier im Wald festsitze?

„Verstanden. Befinden sich noch Personen im Fahrzeug? Sorgen Sie dafür, dass sich niemand in Gefahr befindet!“, befiehlt die Stimme. Ich will bereits verneinen, doch zur Sicherheit drehe ich mich um und werfe einen Blick durch den Innenraum des Busses. Und tatsächlich: Ganz hinten, in der letzten Reihe, sitzt eine zierliche Gestalt. Der Schock raubt mir fast den Atem.

„Haben Sie mich gehört? Sind noch Personen im Fahrzeug?“, dröhnt es knackend aus dem Lautsprecher.

„Ja. Da sitzt jemand“, murmle ich monoton. „Ich sehe jetzt nach.“

Angespannt schreite ich zum hinteren Bereich des Busses. Warum hat sich diese Person noch nicht zu Wort gemeldet? Dass sie vom Unfall nichts mitbekommen hat, erscheint mir fragwürdig. Je näher ich komme, umso mulmiger wird das Gefühl in meinem Magen. Die Regenjacke kenne ich. Das ist doch der Junge, der öfters mit dieser Buslinie fährt? Zumindest habe ich dieses Kleidungsstück schon einmal gesehen. Ein altmodischer, knallroter Regenmantel bleibt mir eben im Gedächtnis.

„Hörst du mich?“, frage ich. „Es gab einen Unfall. Ich bin hier, um zu helfen.“

Keine Antwort. Besorgt hebe ich die rote Kapuze an. Was darunter zum Vorschein kommt, raubt mir den Atem: das leichenblasse Gesicht eines Jungen. Sein Blick ist leer, seine Haut kreideweiß, die Wangen eingefallen. Entsetzt weiche ich zurück. Ich kann nicht glauben, was ich sehe. Meine zitternde Hand berührt behutsam die Halsschlagader. Eiskalt. Kein Puls. Der Junge ist tot.

Entgeistert sinke ich zu Boden. Wie konnte das passieren? Könnte etwa ein Zusammenhang mit dem Unfall bestehen? Unmöglich. Der Junge scheint bereits lange tot zu sein. Aber wieso habe ich ihn die ganze Fahrt über nicht bemerkt? Als ich erneut die Stimme aus dem Funkgerät höre, raffe ich mich auf. Bestürzt taumle ich hin und überbringe die traurige Nachricht: „Im Bus ist ein toter Junge. Ich … ich kann mir nicht erklären, wie es dazu kommen konnte. Bitte … holt schnell Hilfe!“

„Beruhigen Sie sich. Ich habe Ihre Position weitergegeben.“, versichert die tiefe Stimme. „Die Einsatzkräfte sind bereits unterwegs. Wie ist der Zustand des Jungen? Kann er noch gerettet werden?“

Mein Kopf pocht vor Schmerz, als ich mich hastig nach hinten drehe. Meine überanstrengten Augen suchen die Rückbank ab. Doch sie ist leer. Die Leiche ist verschwunden.

„Er ist … weg“, hauche ich fassungslos.

„Wie bitte?“

„Der Junge ist weg. Eben war er noch da!“

Ich haste nach hinten, durchsuche die Sitzreihen. Nichts. Keine Spur von einer Person. Kraftlos schleppe ich mich zurück zum Funkgerät. Kann ich schon meinen eigenen Sinnen nicht mehr trauen?

„Ich … ich habe ihn doch gesehen“, stammle ich ins Mikrofon. „Er hatte eine rote Regenjacke an … und er war ganz blass …“ Mein Blick wandert ins Leere.

„Es wird alles gut“, höre ich wie aus weiter Ferne. „Hilfe ist unterwegs. Es dauert nicht mehr lange!“ Mein Kopf fühlt sich an wie ein brodelnder Kochtopf. Mit schlotternden Händen streiche ich den Schweiß aus meinem Gesicht. Was geht hier bloß vor sich? Warum geschieht das alles? Durch das mit Regentropfen übersäte Fenster erkenne ich die Silhouette der Villa. Während ich sie anstarre, wünsche ich mir, eine Erklärung für das alles zu finden.

In diesem Moment taucht ein gelbliches Licht auf. Es dringt aus dem Erdgeschoss des Anwesens. Verblüfft schüttle ich den Kopf. Wohnt hier etwa doch noch jemand? Ich erkenne schnell, dass Hoffnung besteht. Entschlossen raffe ich mich auf.

Meine Schritte erzeugen regelrechte Wasserfontänen im Kiesboden, während ich durch das geöffnete Gartentor haste. Den hellen Lichtschein verliere ich nicht aus den Augen. Am Fenster erkenne ich den Umriss einer Person. Ich hoffe darauf, entdeckt worden zu sein. Der Weg führt geradlinig auf die wuchtige Eingangstür zu. Nur wenige Schritte trennen mich davon. Allmählich kann ich genauere Details und Gesichtszüge der Person am Fenster erkennen. Es ist ein Junge in einer roten Regenjacke. Mit feurigen Augen starrt er mich an. Unsicher bleibe ich stehen. Ist das der Junge aus dem Bus? Wie ist das möglich?

Als ich schon beginne, meine Wahrnehmung anzuzweifeln, tritt der Junge plötzlich vom Fenster zurück. Benommen reibe ich meine nassen Augen. Die schweren Regentropfen, die auf mich niederprasseln, spüre ich schon gar nicht mehr. Trotzdem beschließe ich, unter dem Vordach des Eingangsbereichs Schutz vor dem Unwetter zu suchen. Was ist bloß mit mir los? Warum sehe ich dieselbe Person an unterschiedlichen Orten, bevor sie ohne Vorwarnung verschwindet?

Als ich den gusseisernen Türklopfer in meiner Reichweite entdecke, werde ich aus meinen wirren Gedanken gerissen. Dreimal lasse ich den schweren Metallring aufprallen, um mich bemerkbar zu machen. Dumpf hallen die Schläge im Inneren des Gebäudes nach, wie in einer Höhle, die gänzlich der Natur überlassen ist. Erst jetzt spüre ich meine eiskalten Hände und beginne, sie aneinander zu reiben.

Schlagartig peitscht ein kräftiger Regenschwall auf mich ein. Sofort erscheint es mir als sehr unangenehm, draußen frierend warten zu müssen. Das schmale Vordach bietet keinen ausreichenden Schutz vor dem Unwetter. Ich denke nicht darüber nach, als meine Hand den eisigen Türgriff umschließt. Unverschlossen. Zum Glück. Obwohl ich den Türflügel so rasch wie möglich aufstoße, kann ich nicht verhindern, dass hartnäckige Regentropfen scharenweise ins Innere strömen. Ich schlüpfe durch die entstandene Öffnung und werfe mich von der anderen Seite gegen das Türblatt, als wollte ich einen Feind aussperren.

Erst als das laute Knallen der schweren Tür verhallt ist und ich nur mehr das gedämpfte Prasseln des Regens vernehme, wage ich einen Blick ins Vorzimmer. Scheinbar bin ich in einem besonders geräumigen Anwesen gelandet, denn der Raum erstreckt sich so weit nach hinten, dass sich sein Ende in der Dunkelheit verliert. Zu meiner Linken führt eine ausladende Holztreppe ins Obergeschoss. Ein abgetretener, verfilzter Teppich bedeckt ihre Stufen und den Boden des Vorzimmers. Angewidert betrachte ich die modrige Tapete an den Wänden. Sie ist zerfressen von Löchern und schimmligen Flecken, ihr muffiger Geruch liegt in der Luft. Dieses Haus muss schon vor geraumer Zeit zurückgelassen worden sein. Was hat also die Anwesenheit der Person zu bedeuten, die mich vom Fenster aus entdeckt hat? Ob es sich tatsächlich um den Jungen gehandelt hat, kann ich nicht wirklich glauben, denn meine Augen könnten mir nur einen Streich gespielt haben. Ganz sicher bin ich mir aber, dass dort jemand gestanden ist. Ich habe den Türklopfer benutzt, also könnte die Gestalt jeden Moment durch eine Tür zu mir ins Vorzimmer treten.

Mein Blick tastet die Wände ab und entdeckt einen uralten, mit kunstvollen Schnitzwerken verzierten Tisch. Dieses antike Möbelstück lenkt seine Aufmerksamkeit auf mich. Dekorative Vasen, ein umgekippter Kerzenleuchter und zerbrochene Porzellanfiguren liegen darauf verstreut. Bei dem Gedanken, in fremden Besitztümern zu stöbern, wird mir ganz unwohl. Doch aus irgendeinem Grund bedrängt mich die Vermutung, dass sich in diesem Durcheinander die Auflösung meiner beklemmenden Situation verbirgt. Wie auf ein Stichwort entdecke ich einen unscheinbaren Bilderrahmen, der verkehrt auf der Tischfläche liegt. Dieses Bild musste einst auf der Wand gehangen und heruntergefallen sein. Wer lässt das einfach so liegen? Behutsam drehe ich den Holzrahmen um und lege ihn wieder auf den Tisch. Ich lasse das Objekt so bald wie möglich wieder los, als wäre es verflucht. Im Halbdunkel des Vorzimmers kann ich kaum erkennen, was auf dem Foto im Rahmen abgebildet ist. Auf dem ersten Blick kann ich nur drei Gestalten ausfindig machen: zwei Erwachsene und ein Kind. Die Glasplatte ist nicht nur zerbrochen, sondern auch zu sehr verstaubt, um Genaueres zu sehen. Also lege ich meinen Finger über die Stelle am Glas, die sich über dem Kopf des Kindes befindet. Mit einem unwohlen Gefühl wische ich den Staub weg, der Gefahr bewusst, durch die zersprungene Scheibe eine Wunde davonzutragen. Ich ziehe meine Hand zurück, als hätte ich eine heiße Herdplatte angefasst. Angespannt starre ich in das freigelegte Gesicht. Meine Vermutung bestätigt sich. Es ist ohne Zweifel der Junge aus dem Bus. Er lächelt fröhlich, seine eisblauen Augen sind direkt auf die Kamera gerichtet. Ich habe das Gefühl, er blickt mich durch das Bild an. Starrt mir in die Augen. Genau in die Seele.

Ängstlich weiche ich zurück. Ich schüttle meinen Kopf und versuche, mich zu beruhigen. Diesen Jungen kenne ich schon länger. Beinahe jeden Tag sehe ich ihn um dieselbe Uhrzeit im Bus. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, im Busfahrersitz zu sein. Nur mit einem flüchtigen Blick in den Spiegel sehe ich so viele Menschen, deren Anwesenheit mir bekannt und vertraut ist. Trotzdem ist es schwierig, mich an den Jungen zu erinnern. Sein unauffälliges Verhalten taucht bei so vielen regelmäßigen Fahrgästen unter, trotz auffälligen Kleidungsstücks. Immer nur saß er da, still und bewegungslos, den Kopf meist in seiner roten Kapuze versteckt.

Da schießt es mir schlagartig durch den Kopf: Noch nie habe ich ihn ein- oder aussteigen sehen. Etwa, weil ich nie zu seinem Ziel gefahren bin? Nein, das klingt doch albern. Es gibt bestimmt eine sachliche Erklärung. Vielleicht habe ich einfach nie darauf geachtet. Die Welt ist voller Ereignisse, die sich meinen Blicken entziehen. Obwohl ich etwas noch nie gesehen habe, kann es sein, dass es ständig ohne mein Wissen geschieht.

Entsetzt schlage ich die Augen auf. Ich habe den Jungen doch tot vorgefunden. Wie ist das erklärbar? Es muss doch irgendeinen Zusammenhang geben! Unweigerlich muss ich an den Unfall vor 20 Jahren denken. Er hat sich in der Nähe der Brücke ereignet, über die ich heute gefahren bin. Ich habe es damals in der Zeitung gelesen und war schockiert. Undenkbar, dass ein ganzer Bus wegen menschlichen Versagens in einem Bachbett landen kann. Es gab zahlreiche Verletzte, aber nur einen Toten: einen zwölfjährigen Jungen. Das habe ich mir gemerkt, weil ich zu dieser Zeit auch ungefähr so alt war. Zum ersten Mal hat mich das dazu gebracht, über die Konsequenzen eines frühen Todes nachzudenken, und was es bedeutet, so jung aus dem Leben gerissen zu werden …

Da erklingen dumpfe Geräusche hinter der Tür direkt neben mir. Es sind Schritte, die sich auf mich zu bewegen, langsam über einen knarrenden, verzogenen Holzboden schlurfend. Ist das etwa … Nein, bestimmt bilde ich mir das nur ein. In diesem Moment wird es wieder still. Gebannt und irritiert starre ich geradeaus, unsicher über das, was ich soeben gehört habe. Als ich bereits die Existenz des Kindes in Frage stelle, öffnet sich die Tür. Da steht er. Der Junge im roten Regenmantel. Er strahlt vor Begeisterung. Sein Gesicht wirkt gesund. Dynamisch. Lebendig.

„Danke“, höre ich den Jungen freudig sprechen. „Vielen Dank dafür, dass Sie mich nachhause gebracht haben!“

Ich will antworten, bringe aber nichts hervor. Alle Fragen in meinem Kopf scheinen mit einem Schlag verschwunden zu sein. Schon hat der Junge die Tür geschlossen und lässt mich sprachlos zurück. Da vernehme ich die Sirenen der Einsatzfahrzeuge in der Ferne. Ein Gefühl der Sicherheit breitet sich in mir aus.

Endlich gerettet.