Eindringling

Verfasst: 2023

Wörter: ~1400

 

Fensterlose Fassaden erstrecken sich hinter dem Bauzaun. Ein hässliches Gitter vor hässlichen Gebäuden. Zumindest ist es mal eine andere Umgebung und nicht immer nur mein Heimweg. So gut kenne ich die Gegend hier nicht, doch das Restaurant finde ich schon. Mein Werkzeugkoffer wird von einem Windstoß erfasst. Ich halte ihn mit der freien Hand fest, damit er mir nicht gegen die Beine prallt. Das hasse ich. Wenigstens ist es heute nicht zu heiß. Ideal, um beim Essen draußen zu sitzen. Es soll ja einen Gastgarten geben.

Der Bauzaun macht eine Kurve und endet an der Hausmauer. Ich bleibe stehen und inspiziere die Lage. Da komme ich nicht vorbei. Na toll, das läuft schon mal gut! Und jetzt? Alles wieder zurück und den längeren Weg nehmen? Nein, viel zu weit. Bin ich überhaupt auf der richtigen Seite? Ich versuche, mich zu erinnern, wo der Bauzaun angefangen hat. In Gedanken sehe ich ein offenes Ende, an dem ich vorbeigegangen bin. Ich war wohl unachtsam, hatte das nicht hinterfragt – und war wie sonst nach der Arbeit gedanklich auf Autopilot.
Ich seufze. Bestimmt ist der Zaun von einer Baustelle übriggeblieben und wurde noch nicht weggeräumt. Jedenfalls sehe ich keine in der Nähe. Nur die karge Rückseite vom Supermarkt und die dreckigen Mülltonnen. Der Gestank von verschimmeltem Brot kitzelt in meiner Nase. Wozu stehe ich hier noch rum?
Ich hebe den Bauzaun aus dem Betonfuß und steige durch die Lücke. Das Restaurant liegt in dieser Richtung auf der anderen Seite einer Bundesstraße. Wenn ich die erreiche, ist es so gut wie geschafft.

Der alte Schotterboden knirscht unter meinen Schuhen. In der Ferne höre ich den Lärm von Baumaschinen. Ist hier in der Nähe nicht das ehemalige Jahrmarktgelände? Wird dort etwa gebaut? Alles gut, solange ich außen herumgehen kann.
Die Gasse verbreitert sich in eine zweispurige Straße. Gerüste sind an beiden Seiten aufgebaut. Ein Radlader und mehrere Kleintransporter stehen hintereinander geparkt. Ich bin also doch falsch. Aber es ist kein anderer Weg ist in Sicht. Die Straße geht geradeaus weiter, hohe Wände blockieren beiden Seiten. Da muss ich durch.
Ein lauter, metallischer Knall lässt mich hochfahren. Auf der offenen Ladefläche eines Wagens steht ein Arbeiter und kramt etwas aus dem Ladegut hervor. Hat er mich entdeckt? Bestimmt ist es ihm ohnehin egal, ob ich hier durchmarschiere oder nicht. Die anderen Fahrzeuge stehen wie zusammengewürfelt nebeneinander. Auf einem Wagen prangt ein großes Logo, darunter der Text Kampfmittelbeseitigung.
Ich schlucke. Was mache ich hier bloß? Wenn die hier sind, dann …
Jemand räuspert sich. Aber nicht wegen mir, oder? Ich gehe weiter, ohne mich umzudrehen.
Der Lärm eines Winkelschleifers macht sich bemerkbar. Mehrere Arbeiter sind um einen Torbogen versammelt. Jemand durchtrennt ein Metallbauteil, Funken fliegen durch die Luft. Auf einem Gitter sind Warnschilder angebracht. Ich verspüre den Drang, mein Tempo zu erhöhen. Bloß nicht. Einfach weitergehen. Dann bemerkt niemand etwas. Ein flüchtiger Blick auf das Firmenlogo an meinem Hemd. So gehe ich vielleicht als einer der Arbeiter durch. Ich sehe zwar nirgends einen Elektriker, aber so genau schaut schon niemand hin.
Wann endet die Straße endlich? So groß kann das Gelände nicht sein. Habe ich die Entfernung unterschätzt? Alles kein Problem. Ich muss nur geradeaus gehen, die Richtung stimmt.

Tiefes Brummen macht sich neben mir bemerkbar. Das Geräusch eines Motors. Ich blicke hinüber, bewege den Kopf nur leicht. Es ist ein dickes, schwarzes Auto mit der Aufschrift SECURITY.
Auch das noch! Welche Baustelle hat denn eine eigene Security? Das muss wirklich ein heikler Ort sein. Einfach weitergehen! Das Auto wird langsamer.
Bitte nicht! Doch der Wagen kommt zum Stillstand, die Scheibe wird heruntergelassen. Ich atme tief durch.
Wie konnte ich so blöd sein? Wegrennen bringt nichts, würde alles nur schlimmer machen. Mit hängenden Schultern bleibe ich vor der offenen Türscheibe stehen. Ein Mann mit knubbeliger Nase mustert mich. Er trägt ein blaues Hemd mit kurzen Ärmeln, die sich über den Oberarmen spannen. Wenn er wollte, könnte er mich mit nur einem Handgriff auseinanderreißen.
„Gehst du bis nach hinten zum Ausgang?“ Er nickt mit dem Kopf in Fahrtrichtung. „Ich kann dich ein Stück mitnehmen. Dann musst du nicht alles zu Fuß gehen.“
Mein Mund öffnet sich langsam und zitternd. Ich brauche ein paar Sekunden, um die Worte zu verarbeiten.
„Alles in Ordnung?“ Seine Stimme klingt kräftig, aber freundlich.
„Ich … ja! Ich fahre gerne mit.“
Meine ausgestreckte Hand erfasst den Türgriff. Es wäre verdächtig, das Angebot abzulehnen. Was bleibt mir sonst übrig? Ich setze mich auf die Rückbank. Den Werkzeugkoffer lege ich auf meinen Schoß. Noch bevor ich mich angeschnallt habe, ist das Fahrzeug schon in Bewegung. Mit kaum mehr als Schritttempo geht es die Straße entlang.
Ein Stück mitnehmen. Das klingt nicht nach Ärger. Der Kerl hat keine Ahnung, dass ich hier nichts verloren habe! Zumindest noch nicht. Er könnte mich problemlos zur nächsten Polizeistation bringen. Ich darf mich nur nicht verraten. Wie würde sich ein normaler Arbeiter benehmen?
„Das ist wirklich nett“, versuche ich das Gespräch aufrechtzuhalten. Der Mann antwortet nicht. Sein Kopf wippt ein wenig, während wir über den unebenen Boden fahren. Feiner Staub bedeckt die Fenster. Jetzt nur nichts Falsches sagen.
„Ich heiße Laurin“, füge ich hinzu. „Es tut mir leid, wenn … also, ich bin nicht besonders gesprächig.“
„Ach, das macht doch nichts. Ich bin Dietrich. Kannst mich auch Dieter nennen.“
„Okay.“
Dieter blickt durch den Rückspiegel zu mir. Ich zwinge mich, ihm in die Augen zu sehen. Verhalte ich mich natürlich? Oder ahnt er etwas?
„Gehst du immer den ganzen Weg bis nach hinten? Das ist ganz schön weit.“
„Äh … nein.“ Ich versuche, aufrecht zu sitzen. „Heute ist eine Ausnahme. Ich treffe mich mit Freunden in einem Restaurant.“
„In welchem?“
„Das an der Bundesstraße.“
„Ah. Das kenne ich, da schmeckt es immer gut.“
Perfekt! Ich muss einfach nur über Dinge reden, die auch wahr sind. Dann wird er keinen Verdacht schöpfen. Wir sind immer noch auf dem Baustellengelände. Ein Lastwagen blockiert die Fahrbahn, Dieter manövriert gekonnt daran vorbei. Hinten steht ein Arbeiter, der aus dem Weg tritt. Dieter winkt ihm mit einer flüchtigen Handbewegung zu.
„Schau, der passt gut auf“, meint er. „Was glaubst du, wie viele Leute hier nur in die Luft schauen?“
„Ich bin immer aufmerksam.“
„Schon klar. Die jungen Leute passen meistens auf.“
Meistens. Hat er meine Lüge durchschaut? Ich rutsche auf der Rückbank hin und her. Die Klimaanlage bläst lauwarme Luft in mein Gesicht. Nur nichts Konkretes über meine Arbeit sagen, sonst fliege ich auf.
„Ich freue mich schon auf das Essen“, sage ich also.
„Das glaube ich. Am wichtigsten sind aber die Leute, nicht?“
„Ja …“
„Deine Kollegen kommen nicht mit?“
Mein Gesicht fühlt sich heiß an. Ich lehne mich zum Luftstrom der Klimaanlage, doch das zeigt keine Wirkung.
„Es ist oft schwierig mit meinen Kollegen“, bringe ich hervor. Ein guter Satz. Denn er ist wahr. Und irgendwie ist es befreiend, ihn auszusprechen. Ob Dieter weiß, welche Firmen hier arbeiten? Er streicht sich mit der Hand über die Schläfe.
„Manchmal kommt es mir so vor, dass sie sich schlecht in meine Lage hineinversetzen können“, ergänze ich. „Sie machen sich über meine Arbeitsweise lustig. Darüber, dass ich so ordentlich bin. Auch in Bereichen, in denen Ordnung nicht die oberste Priorität hat. Aber sonst kann ich mich nicht konzentrieren. Wenn ich ihre Vorschläge ablehne, nennen sie mich frech.“
„Das ist nicht deine Schuld“, sagt Dieter. „In jeder Gesellschaft müssen sich Leute gegenseitig unterstützen. Nur so erreichen alle das, was sie wollen. Wenn dich jemand nicht respektiert, dann ist das deren Problem, nicht deins.“
„Aber außer mir verhält sich niemand so …“
„Papperlapapp. Vergiss deine Stärken nicht! Du bist genauso wichtig für deine Firma wie alle anderen.“
Ich lehne mich zurück und denke nach. Auf so viel Verständnis bin ich noch nie gestoßen. „Stimmt. Wenn ich … am Ende des Tages meine Arbeit erledigt habe, ist ja alles gut. Dann brauchen sie sich nicht einzumischen, nur weil ich etwas anders mache als sie. Sie sind immerhin Kollegen und nicht Vorgesetzte.“
„Eben.“
Das Geräusch der Reifen wird leiser. Fährt das Auto auf Asphalt? Ein Blick aus dem Fenster und ich sehe die Bundesstraße. Geschafft! Ich spüre ein seltsames Gefühl im Magen, wie beim Abheben in einem Flugzeug.
„So, Laurin. Ich fahre noch bis zum Parkplatz“, sagt Dieter, während er die Einfahrt zum Restaurant ansteuert.
Ich schweige, während er einparkt. Alles richtig gemacht. Ich habe das Restaurant erreicht und die Baustelle hinter mich gelassen, ohne Aufsehen zu erregen. Doch irgendwie fühlt es sich falsch an, von Dieter Abschied zu nehmen. Ich könnte noch viel länger mit ihm reden. Er würde mich verstehen.
„Danke fürs Mitnehmen, Dieter. Und für das Gespräch.“
Dieter reibt sich die Schläfe und lächelt mich an. „Ach, kein Problem. Dann lass es dir schmecken. Und viel Spaß mit deinen Freunden!“
Ich öffne die Tür und setze einen Fuß auf den Boden. „Danke nochmal!“
„Ich danke dir! Warst sehr kooperativ.“
Er blinzelt mir mit einem Auge zu.