Abenteuer in Artumland

Verfasst: 2017 – 2019

Wörter: ~6400

 

Teil 1: Die Reise beginnt

Teil 2: Die Samtebene

Teil 3: Die Trümmersenke

Teil 4: Die Schwammtunnel

Teil 5: Der Forst von Torrloy

Teil 6: Das Finale

 

 

♦ Teil 1: Die Reise beginnt ♦

 

Hoch oben, auf der Spitze des Aussichtsarms, saß Leda, die Frosteule. Von hier konnte sie fast ganz Artumland überblicken. Aufmerksam drehte sie ihren blau gefiederten Kopf in alle Richtungen. Sie war größer als die anderen Frosteulen – eine wahre Hünin, mit kräftigen Schwingen und robustem Schuppenkleid. Trotz ihrer Größe zeigte sich Leda meist bescheiden und ruhig. Heute war sie jedoch besorgt.

Das trübe Licht in der Ferne war ihr nicht besonders geheuer. Etwas stimmte damit nicht. Der Lichtschein drang aus dem obersten Gemach des mächtigen Zentralturms, einem Monument, welches das Herzstück des Ramut-Schlosses darstellte. Das Ramut-Schloss … alleine der Klang dieses Namens ließ Leda erschaudern. Es befand sich inmitten des finsteren Forsts von Torrloy, weshalb nur der Turm aus der Ferne sichtbar war. Die gesamten Ausmaße, geschweige denn das Aussehen des Ramut-Schlosses, lagen unter den violetten Wipfeln des Forsts von Torrloy verborgen. Umgeben wurde dieser von allen denkbaren Landschaften. Da gab es die weite Samtebene, die schroffe Trümmersenke, die feuchten Schwammtunnel und das unübersehbare, aber dennoch weit entfernte Nordmassiv.

Leda wusste nicht, was das gespenstische Licht im Ramut-Schloss zu bedeuten hatte. Woher auch? Nicht einmal über das Schloss selbst war viel bekannt. Es gab nur Gerüchte. Manche sagten, hier lebe ein böser Herrscher. Andere behaupteten, dass die Festung ein Labyrinth verberge, in dem Gefangene dazu verdammt seien, bis in alle Ewigkeit herumzuirren. Und ein weiteres Gerücht besagte, dass hier eine Fabrik zu finden sei, die Waffen für eine künftige Schlacht herstellte.

„Leda! Hier bist du also. Ich habe nach dir gesucht“, erklang plötzlich eine fiepende Stimme von unten. Leda führte eine 180-Grad-Drehung mit ihrem Kopf aus und erspähte Bulo, den Hamsterkater. Mit seinem goldbraunen Fell war er auf der Plattform des hölzernen Aussichtsarms gut getarnt, für Ledas scharfe Augen war das jedoch kein Problem.

„Ich hätte nicht damit gerechnet, dich hier oben zu sehen. Was ist los?“, wollte Leda wissen. Sie war schon lange mit Bulo befreundet, doch sein Erscheinen am höchsten Punkt der Siedlung hatte sie tatsächlich überrascht. Bulo war viel kleiner als sie und musste einen beschwerlichen Weg hinter sich haben. Das konnte nur bedeuten, dass er wichtige Neuigkeiten hatte; andernfalls wäre er zu faul dafür gewesen, hierher zu kommen.

„Oktimor, der reisende Wahrsager, will uns etwas berichten!“, begann Bulo zu erzählen. „Er meint, es geht um das … Ramut-Schloss. Du musst dir anhören, was er zu sagen hat!“

So aufgeregt hatte Leda den tollpatschigen Hamsterkater selten erlebt. Doch sie verstand ihn, jedes Wesen in ihrer Siedlung wollte mehr über das rätselhafte Ramut-Schloss erfahren.

„Gerne. Steig auf!“, befahl Leda. Bulo verstand sofort und kletterte auf den Rücken der Frosteule, um sich an den Schuppen knapp unter Ledas Nacken festzuhalten. Auf diese Weise hatten die beiden schon einige Kurzflüge unternommen. Dieses Mal steuerte Leda den Versammlungsplatz der Siedlung an.

Als Leda und Bulo ankamen, war der Platz bereits überfüllt mit Kleinbären, Kauzfalken, anderen Frosteulen und Hamsterkatern sowie weiteren Geschöpfen der Siedlung. Oktimor stand auf einer kleinen Erhöhung in der Mitte des Platzes und schien darauf zu warten, bis sich alle beruhigt hatten. Keiner der Anwesenden wusste, mit welchem Wesen sie es zu tun hatten, denn Oktimor war stets in eine rote Robe gehüllt. Er war wie angekündigt gestern angekommen, um nun den Bewohnern der Siedlung zu berichten.

„Artumbürger, horcht!“, krächzte Oktimors raue Stimme aus der Öffnung seines Umhangs. „Ich bin gekommen, um vor einer gefährlichen Bedrohung zu warnen, die dem Ramut-Schloss innewohnt. Zektomix, der böse Magier, treibt dort sein Unwesen! Er schmiedet Pläne, die ganz Artumland Schaden zufügen können.“

Bei diesen Worten entstand Unruhe in der Menge, die sich wie eine flüsternde Welle ausbreitete. Doch Oktimor sprach unbeirrt weiter: „Jemand muss den unheilvollen Herrscher Zektomix aufhalten! Ich bin durchs Land gereist, um nach Abenteurern zu suchen, die sich einer solchen Aufgabe gewachsen fühlen. Die Reise zum Ramut-Schloss ist lang und beschwerlich, deshalb konnte ich noch keine Freiwilligen finden. Und nun frage ich euch: Wer ist bereit, diese Herausforderung anzunehmen?“

Plötzlich wurde es still. Niemand wagte, auch nur einen Mucks von sich zu geben. Doch dann wurde das Schweigen unterbrochen, fast gleichzeitig von Leda und Bulo.

„Ich! Ich mache es!“, riefen die beiden im Chor. Verwundert darüber, dass sie gleichzeitig auf dieselbe Idee gekommen waren, verfielen sie in eine Starre. Die Blicke der Anwesenden waren auf sie gerichtet. Magie lag in der Luft, die Zeit schien stillzustehen.

Endlich durchbrach Oktimor die Illusion und verkündete mit kratzigen Worten: „So soll es sein. Die Rettung von Artumland steht bevor!“

Lautstarker Jubel erfüllte die Siedlung, Erleichterung war zu spüren. Bulo war noch nicht ganz bei Sinnen, als sich Leda in Bewegung setzte und mit ihm auf Oktimor zumarschierte.

„Oh, weiser Hellseher! Was sollen wir jetzt tun?“, richtete Leda ihre Worte an den verhüllten Wahrsager.

„Ihr müsst das Ramut-Schloss erreichen und Zektomix persönlich gegenüberstehen! Nur so könnt ihr seine Pläne durchkreuzen und ihn ein für alle Mal aufhalten!“, verkündete Oktimor zielsicher. „Doch um die Reise zum Schloss antreten zu können, benötigt ihr Mut und Tapferkeit. Und wie ich in euren Augen erkennen kann, besitzt ihr dies auch!“

Bulo kletterte vorsichtig auf die Schulter von Leda und spähte in die Öffnung von Oktimors roter Robe. Doch er sah nur undurchdringliche Finsternis.

„Aber wie finden wir den richtigen Weg?“, fragte Leda mit hörbarer Aufregung in ihrer Stimme.

„Nehmt dieses Amulett“, befahl der Wahrsager, während er dem Duo eine silberne Halskette entgegenstreckte. „Damit kann ich telepathisch Kontakt zu euch aufnehmen und euch den Weg weisen.“

Leda verneigte sich, um sich von Oktimor das Amulett umhängen zu lassen. Bulo inspizierte es gründlich, sobald es sich vollends zwischen das Gefieder und die Schuppen der Frosteule gelegt hatte. Ein hellgrüner Kristall baumelte an der Vorderseite, seine Form erinnerte den Hamsterkater an die einer Kugelnuss.

„Und nun, brecht auf!“, verlangte Oktimor. „Ihr habt nicht viel Zeit!“

„Aber … unsere Verwandten …“, stammelte Leda.

„Sorgt euch nicht. Es wird alles gut“, versicherte ihr Oktimor. Das reichte, um die Frosteule in Abflugposition zu bringen. Bulo konnte sich gerade noch am silbernen Band des Amuletts festkrallen, bevor Leda ihre Schwingen ausbreitete und sich in die Lüfte begab.

 

 

♦ Teil 2: Die Samtebene ♦

 

Prächtige Baumkronen und ausladende Äste zogen an Bulo vorbei, der es sich zwischen Ledas mächtigen Schwingen gemütlich gemacht hatte.

„So weit war ich noch nie von zuhause entfernt“, fiepte er verträumt, während er den belebten Geräuschen des üppigen Waldes zuhörte.

„Wir haben noch einen weiten Weg vor uns“, meinte Leda, die in die Ferne starrte.

„Wie weit?“

„Genau kann ich es nicht sagen. Bestimmt mehrere Tage.“

„Mehrere Tage?“, wiederholte Bulo erschrocken. „Worauf haben wir uns bloß eingelassen?“

„Keine Angst, wir schaffen das!“, munterte ihn Leda auf.

„Ihr seid auf dem richtigen Weg!“, ertönte plötzlich die krächzende Stimme von Oktimor.

Verwundert schaute sich Bulo um, doch die Stimme schien sich nur in seinem Kopf zu befinden. Auch Leda, die ebenfalls mit dem Amulett in Berührung stand, hatte Oktimors Worte wahrgenommen.

„Begebt euch nach Norden, bis ihr die weite Samtebene erreicht“, fuhr der Wahrsager fort. „Ich gebe euch dort weitere Anweisungen.“

Als Oktimor verstummt war, meldete sich die Frosteule erneut: „Ich kenne die Umgebung des Ramut-Schlosses gut, weil ich sie vom Aussichtsarm unserer Siedlung täglich betrachten konnte. Der Forst von Torrloy schließt die Festung wie ein Ring von allen Seiten ein, da müssen wir also durch. Um aber erst dorthin zu gelangen, müssen wir zur weiten Samtebene, daran führt kein Weg vorbei. Dann gibt es mehrere Möglichkeiten: Wir können nach Nordosten reisen und der Samtebene folgen, oder wir fliegen geradewegs nach Norden, durch die schroffe Trümmersenke. Dort sind auch die feuchten Schwammtunnel, aber die sollten wir vermeiden. Sie sind zum Großteil unterirdisch und sehr eng, habe ich gehört. Wer weiß, ob ich darin überhaupt fliegen kann?“

„Ich finde, wir sollten auf Oktimors Vorschlag warten“, meinte Bulo. „Er kennt bestimmt den idealen Weg. Sonst hätte er uns zwei nicht losgeschickt!“

Nach und nach lichteten sich die Baumriesen auf beiden Seiten der Reisenden. Allmählich verschwanden die brodelnden Klänge der Waldbewohner, das Blätterdach über ihnen öffnete sich. Bald schwang sich Leda nur noch zwischen wenigen astlosen Stämmen durch die Lüfte, der Horizont war dunkelorange eingefärbt.

„Es wird Abend. Wir sollten eine Unterkunft für die Nacht finden“, bemerkte die Frosteule. Sie hatte schon fast die letzten Gewächse vor der Samtebene erreicht, als Bulo aufgeregt rief: „Hier, Leda! Da ist ein Baum mit einem Loch!“

Geschwind hatte auch Leda die Stelle entdeckt und steuerte mit dem Hamsterkater auf dem Rücken darauf zu.

Als die Nacht hereinbrach, hatten es sich Leda und Bulo bereits in ihrer hölzernen Unterkunft gemütlich gemacht.

„Glaubst du, meine Familie vermisst mich schon?“, durchbrach Bulo plötzlich die Stille.

„Sie wissen, dass es dir gut geht“, versicherte ihm Leda. „Oktimor steht in Verbindung mit uns, wir haben also keinen Grund zur Sorge.“

Als sie den unsicheren Blick des Hamsterkaters bemerkte, fügte sie hinzu: „Keine Angst, du hast ja mich! Du weißt doch, wie gut ich dich beschützen kann. Erinnerst du dich daran, als du vergangenen Winter auf Futtersuche zu tief in den Wald gelaufen bist? Ich habe dich gerettet und völlig heil zurück zur Siedlung gebracht, weißt du noch?“

Bulos Gesicht hellte sich auf. Seine belebten Augen loderten, als er seine Sichtweise der Geschichte erzählte. Die beiden unterhielten sich so lange, bis sie müde wurden und in einen tiefen Schlaf fielen.

Am nächsten Morgen ging die Reise sofort weiter. Kaum war die Frosteule losgeflattert, meldete sich bereits Oktimor: „Exzellent, ihr habt ein unschlagbares Tempo! Ich habe über euren Weg zum Ramut-Schloss gründlich nachgedacht. Schlagt die Route direkt nach Norden ein und durchquert die weite Samtebene. Ihr müsst die schroffe Trümmersenke erreichen, bevor der Tag endet! Ich rate euch, in der Samtebene nicht zu landen. Unter der Erde lauern Gefahren!“

„Gefahren?“, wiederholte Bulo alarmiert. Doch Oktimor antwortete nicht mehr.

„Vertrauen wir ihm lieber“, schlug Leda vor. „Ich möchte jede bedrohliche Situation vermeiden.“

Kurze Zeit später war der Waldrand bereits in Sichtweite. Nur wenige Baumstämme trennten die beiden vor dem Rand der scheinbar endlosen Samtebene.

„Leda, siehst du diese Kreatur da unten?“, meldete sich der Hamsterkater besorgt. „Was ist das?“

Am Boden hockte eine winzige aufrechte Gestalt, die neugierig in ihre Richtung blickte. Dank ihrem dunklen, buschigen Fell verschmolz sie beinahe mit dem ockerfarbenen Untergrund.

„Du brauchst keine Angst haben, Bulo“, beruhigte ihn Leda. „Noch sind wir nicht in der Samtebene. Das ist ein Erdhörnchen, es sind eigentlich sehr scheue Wesen. Was macht es wohl so nahe am Waldrand?

Kaum hatte Leda das gesagt, schreckte das Erdhörnchen auf und verschwand in einem nahegelegenen Erdloch.

„Bestimmt hat es Angst vor dir“, meinte Bulo. „Aber das macht nichts, wir müssen jetzt weiter. Die Trümmersenke ohne Pausen zu erreichen wird vielleicht nicht einfach. Aber das schaffst du, Leda!

Dem stimmte die Frosteule ermutigt zu. Entschlossen flog sie dem fernen Horizont entgegen, der die ersten Erhebungen der Trümmersenke preisgab. Doch je mehr Stunden vergingen, umso schwerer wurden Ledas Augenlider …

 

 

♦ Teil 3: Die Trümmersenke ♦

 

Ein unheilvolles Donnern riss Bulo aus dem Schlaf. Benommen schlug er seine winzigen Augen auf und hob seinen Kopf. Eine weiße, körnige Substanz umgab ihn – erst jetzt spürte der Hamsterkater die eisige Kälte, die sich wie ein Seidentuch um ihn legte und durch sein flauschiges Fell drang. Da hörte er das Donnern erneut, es schien von oben zu dringen und kam allmählich näher.

„Leda! Wo bist du?“, rief Bulo verzweifelt, während er sich durch die klirrend kalte Schicht kämpfte. Einige Nadelbäume und schroffes Gestein fielen in sein Blickfeld. Hatten Leda und er die Trümmersenke über Nacht erreicht? Was war geschehen?

„Hier bin ich!“, vernahm Bulo plötzlich dicht neben ihm. Einen Augenblick später tauchte Leda auf und musterte ihren Gefährten besorgt.

„Bulo, es tut mir so leid!“, begann die Frosteule mit hörbarem Entsetzen in der Stimme. „Ich bin eingeschlafen, als wir den Rand der schroffen Trümmersenke erreicht haben. Wir können hier nicht verweilen, es ist zu gefährlich!“

Als wollte es diesen Satz unterstreichen, ertönte das Poltern hinter den Abenteurern deutlich lauter als zuvor. Verängstigt kletterte Bulo auf den Rücken der Frosteule und klammerte sich fest. Beide starrten panisch einer Lawine entgegen, die sich mit hohem Tempo den Hang hinunterwälzte. Ihnen blieb kaum mehr Zeit, etwas zu unternehmen.

In diesem Moment wurde Leda von einer enormen Kraft gepackt und in die Luft gehoben. Eine zottelige Pranke hatte sie erfasst und transportierte sie über den Boden. Als sie abgesetzt wurde, starrte Leda in die weit aufgerissenen Augen eines Wesens mit langem, weißem Fell und riesenhafter Statur. Da donnerte auch schon die Lawine an ihnen vorbei, alles verschlingend, was sich ihr in den Weg stellte. Leda, Bulo und der rätselhafte Gigant blieben aber hinter einem Gesteinsbrocken verschont. Als sich der aufgewirbelte Staub gelegt hatte und das Grollen der Lawine verklungen war, erhob das Zotteltier die Stimme: „Fremde Gestalten! Sagt mir, wer seid ihr?“

„Wir sind zwei tapfere Wanderer auf dringender Mission“, erklärte Leda kurzerhand. „Ihr habt uns das Leben gerettet!“

„Ach, bedankt euch bloß nicht bei mir!“, antwortete der Riese lachend. „Ich bin Ulom, der Zottelbär. Keine Schneelawine kann mir etwas anhaben. Wenn ich jemanden in Not sehe, helfe ich sofort. Schließlich lebe ich hier! Ihr scheint hingegen nicht aus dieser Gegend zu sein. Sagt, was bringt euch zu diesem verschneiten Ort?“

„Schnee?“, wiederholte Bulo verwirrt. „Was ist das?“

Ulom stieß ein schallendes Lachen aus und klärte auf: „Ihr seid wirklich nicht von hier! Schnee, das ist dieses kalte, weiße Zeug, in dem wir gerade stehen. Es kann sehr gefährlich werden, die Lawine vorhin hätte euch fast erwischt. Talwärts ist es sicherer, dort unten ist es angenehm warm und der Schnee wird zu flüssigem Wasser.“

„Unser Ziel ist aber das Ramut-Schloss im Forst von Torrloy“, entgegnete Leda.

„Oho, ihr wollt also zum Schloss? Ein sehr mutiges Vorhaben!“, meinte Ulom voller Ehrfurcht. „Ich kann euch bis zu den ersten Bäumen des Waldes begleiten, wenn ihr wollt. Der Weg bis dorthin führt von hier erst ins Tal, dann durch die Schwammtunnel. Was sagt ihr dazu?“

Leda und Bulo stimmten zu, da sie auf die Unterstützung eines Ortkundigen nicht verzichten wollten. Der Zottelbär führte die beiden zu einem selbstgebauten Gestell aus Holz und sprach: „Springt rein und haltet euch gut fest! Mit meinem Schlittenkanu sind wir ruck zuck im Tal!“

Kaum hatten die Passagiere Platz genommen, ging die Fahrt nach unten auch schon los. Schneebedeckte Felsen und Nadelbäume zogen am Schlitten vorbei, der an der Spitze von Ulom gesteuert wurde. Mit Leichtigkeit wich er Hindernissen aus, trotz hoher Geschwindigkeit fand er stets einen sicheren Weg. Bulo, der sich an den Schuppen der Frosteule festklammerte, erspähte einen zugefrorenen Bach zu seiner Rechten. Ulom schien darauf zuzulenken, oder war es der Bach, der immer breiter wurde?

Plötzlich war der Hang zu Ende, allesamt flogen sie über den Abgrund hinaus und segelten durch die Luft. Nur einen Augenblick später tauchte das Schlittenkanu in klirrend kaltes Wasser ein, trieb an die Oberfläche und wurde vom reißenden Strom des Baches mitgerissen. Keuchend schnappten Leda und Bulo nach Luft und öffneten ihre Augen. Was sie erblickten, raubte ihnen erneut den Atem: Unzählige Flüsse sammelten sich in einem glänzenden See, der von üppigen Gewächsen und baumhohen Stauden umgeben wurde. Der Bach führte sie immer näher zu einer Ansammlung von goldenen Würfeln, die in der Mitte des Sees zu einer Pyramide angehäuft waren. Sie glitzerte wie Morgentau im gelblichen Licht der Sonne.

„Das“, verkündete Ulom, mit ausgestrecktem Arm auf die goldene Pyramide zeigend, „ist mein Zuhause.“

Staunend betrachteten die Frosteule und der Hamsterkater eine Vielfalt an Pflanzen, die auf saftigem, grünem Boden Früchte in allen Farben trugen. Das Wasser war seicht, bedeckte aber fast die ganze Senke. Nur wenige Gesteinstrümmer lagen zur Hälfte versunken herum, auch sie waren mit dichtem Moos überwachsen.

„Ich hätte nie gedacht, Landschaften wie diese in Artumland zu finden“, gab Leda beeindruckt zu.

„Das brauchst du mir nicht zu sagen!“, frohlockte der Zottelbär. „Ohne das Tauwasser, das durch die vielen Schneefälle oben im Gebirge entsteht, wäre diese Oase gar nicht möglich. Ihr zwei seid bestimmt durstig und hungrig. Meine Familie bietet euch gerne Speisen an!“

Mittlerweile hatten die drei Reisenden die goldene Pyramide erreicht. Ein Zottelbär mit zierlicherer und etwas kleinerer Statur verglichen mit Ulom wartete bereits auf einem der Würfel. Als das Boot anlegte, sprach die Gestalt aufgeregt: „Wen hast du denn hier mitgebracht, Papa?“

„Unsere Gäste! Sie sind weit gereist“, antwortete Ulom, bevor er sich zu Leda und Bulo wandte und fortfuhr. „Das ist Imla, meine älteste Tochter. Sie wird euch nach drinnen führen, zu unserer Festtafel!“

Das ließ sich die Frosteule nicht zweimal sagen, sie war nach ihrem langen Flug entkräftet und hatte das Boot im Nu verlassen. Auch Bulo konnte plötzlich seinen Hunger spüren, als er von der Festtafel hörte.

Imla zeigte den beiden eine Öffnung, die ins Innere der großen Würfelanhäufung führte. Ein spiegelglatter, rechtwinkeliger Korridor vergrößerte sich zu einem langen Saal mit einer goldenen Tafel im Zentrum. Durch ein Loch in der Decke fiel strahlendes Tageslicht, es erhellte die unzähligen Berge an Früchten, die auf der Tafel überquollen. Rund um den Tisch versammelte sich die Großfamilie der Zottelbären, weitere Mitglieder näherten sich von allen Seiten. Die jüngsten unter ihnen besaßen ein deutlich kürzeres und weniger buschiges Fell, vermutlich, um dem warmen Klima im Tal angepasst zu sein.

„Ihr kommt genau zur richtigen Zeit“, meinte Imla. „Nehmt Platz und esst, es ist genug für alle da!“

Das Festmahl war deliziös. Leda versuchte, mit ihrem Schnabel eine saftige, kugelige Frucht aufzuheben. Stattdessen zerplatzte diese und ließ die köstliche Flüssigkeit im Inneren frei. Also stocherte Leda in der nächsten Beere herum, bis die Schale aufsprang und sich auf diese Weise aussaugen ließ. Imla sah der unbeholfenen Frosteule belustigt zu, während sich der Hamsterkater für ihn viel zu große Trauben genehmigte. Gemeinsam speisten sie so lange, bis sie völlig satt waren.

 

 

♦ Teil 4: Die Schwammtunnel ♦

 

Bedächtig erhob sich der golden glänzende Gasball aus seinem Versteck hinter den verschneiten Gipfeln der Trümmersenke. Feurige Sonnenstrahlen überschwemmten das mächtige Tal binnen weniger Augenblicke. Die Blätter der Gewächse erhellten sich freudig, Reflexionen tanzten auf der Wasseroberfläche.

Fasziniert beobachtete Leda die Szene, geschützt im Inneren eines Goldwürfels an der Spitze der angehäuften Pyramide. Zum ersten Mal seit dem Beginn ihrer Reise musste sie an den Aussichtsarm ihrer Siedlung denken. Auch dort hatte sie bereits zahlreiche Sonnenaufgänge beobachtet.

„Leda? Bulo? Könnt ihr mich hören?“, krächzte Oktimors Stimme plötzlich aus dem Amulett. Darauf hatte die Frosteule beinahe vergessen, da es so lange geschwiegen hatte.

„Ihr habt nicht mehr viel Zeit, bis Zektomix seine Pläne vollendet hat!“, fuhr der weise Wahrsager aufgebracht fort. „In wenigen Tagen ist es vermutlich so weit. Beeilt euch, hört ihr?“

„Jawohl! Wir brechen sofort wieder auf“, antwortete Leda pflichtbewusst. Gleichzeitig durchstreifte ihr Blick den Raum in allen Ecken, um ein Anzeichen von Bulo zu finden. Wo steckte dieser verschlafene Hamsterkater bloß?

„Guten Morgen, Leda! Auch schon wach?“, drang eine tiefe Stimme von unten in Ledas aufmerksame Ohren. Reflexartig spähte sie über die Kante des goldenen Würfel und erblickte Ulom, der ihr von einer tiefer gelegenen Plattform zuwinkte. Er schien etwas im anderen Arm zu halten …

Geschwind ließ ich Leda von ihrem Standort fallen, breitete ihre Flügel aus und schwang sich lautlos dem Zottelbär entgegen. Nach ihrer Landung brachte dieser zum Vorschein, was sich in seinem wolligem Arm eingerollt hatte: ein durchnässter Hamsterkater.

„Bulo? Was ist denn mit dir passiert?“, wollte Leda überrascht und besorgt wissen.

„Ich muss im Schlaf herumgewandelt sein“, gab Bulo beschämt zu. „Als ich aufgewacht bin, war überall Wasser!“

„Der arme Kerl ist über den Rand eines Würfels gefallen“, erzählte Ulom belustigt. „Ich habe ihn ziellos im Wasser rumschwimmen sehen. Wenn ich ihn da nicht herausgefischt hätte, wer weiß, was dann passiert wäre. Passt in Zukunft gut auf euch auf!“

„Keine Angst, dafür werde ich sorgen“, versicherte Leda. „Wir müssen jetzt weiterreisen, uns bleibt nicht mehr viel Zeit! Bitte zeige uns den Weg zum Forst, Ulom.“

Also machten sich die drei auf den Weg zu Uloms Schlittenkanu und stiegen ein. Bulo, der es sich auf der Schulter des Zottelbären gemütlich gemacht hatte, warf noch einen letzten Blick auf die goldene Würfelpyramide. In einer Nische konnte er Imla erkennen, die ihre Abreise mitverfolgte. Immer kleiner erschien die Pyramide, je weiter sich die Reisenden von ihr entfernten.

Die sanfte Strömung trieb sie gleichmäßig durchs überwucherte Tal. Allmählich waren die ersten violetten Anzeichen der feuchten Schwammtunnel hinter dem Gestrüpp und den moosigen Felstrümmern zu erkennen. Leda konnte ihren scharfen Augen nicht trauen, als sie die löchrige und doch massiv wirkende Anhäufung erblickte.

„Das sind also die Schwammtunnel?“, wollte sie erfahren, um ihre Zweifel zu überwinden.

„Allerdings“, antwortete Ulom wissend. „Wenn wir uns richtig anstellen, dann finden wir hier einen Weg, der uns geradewegs in den Forst von Torrloy führt.“

„Und das ist wirklich die einzige Möglichkeit?“, erkundigte sich Leda, als sie die ersten passierbaren Höhleneingänge entdeckte.

„Dir sind enge Gänge wohl nicht geheuer, habe ich recht?“, vermutete Ulom grinsend. „Es gibt keinen Grund zur Sorge. Auch, wenn du ein Wesen der Lüfte bist, wirst du einen kurzen Fußmarsch bewältigen können. Du musst nur an dich glauben!“

Schon erreichten die Abenteurer eine winzige Bucht, die sich aus der violetten Substanz gebildet hatte. Schmatzend stieß ihr Boot gegen die nasse, schwammige Oberfläche und blieb prompt daran haften.

„Auf geht’s!“, rief Ulom begeistert und gelangte mit nur einem großen Satz auf festen Boden. Dieser stellte sich allerdings nicht als besonders fest heraus, da der Zottelbär sofort tief in den Untergrund einsank.

„Ui, seht nur, wie schön weich es hier ist!“, reagierte er auf den Vorfall. Widerwillig landete auch Leda auf dem durchnässten Boden, der unter ihrem Gewicht glücklicherweise viel weniger nachgab. Bulo verharrte jedoch auf Uloms Schulter, um nicht erneut nass zu werden. Außerdem befürchtete er, in einem der kleinen Löcher in der Schwammmasse verloren zu gehen.

„Diese Höhle sieht groß genug aus. Lasst es uns hier versuchen!“, entschied die Frosteule zielsicher und bewegte sich sogleich darauf zu. Das Gehen empfand sie als äußerst unangenehm, doch sie zwang sich, darin einen Rhythmus zu finden.

Mit Ulom dicht hinter ihr schritt sie durch den düsteren Hohlraum. Eisiges Wasser tropfte von der Höhlendecke und drang in ihr gepanzertes Gefieder. Ein sanfter Luftzug blies durch den Tunnel, er erzeugte schaurige, hohle Klänge. Leda hatte ihren Kopf eingezogen und kümmerte sich nicht um die Geräusche. Doch als sie zunehmend lauter wurden, verstärkte sich ihr Unwohlsein.

„Hier gefällt es mir nicht“, meldete sich Bulo plötzlich zu Wort. „Was hat dieser eiskalte Wind hier zu suchen?“

„Wenn hier ein Wind hineinweht, dann muss er irgendwo wieder raus“, antwortete Ulom. „Wir befinden uns bestimmt in der Nähe eines Ausganges!“

Tatsächlich verbreiterte sich die Höhle nach einigen Windungen und führte in einen gewaltigen, unterirdischen Saal. Die Schritte des Zottelbären und der Frosteule hallten schmatzend durch den gigantischen Raum, der keine einzige gerade Fläche besaß.

„Seht, da oben!“ Ulom wies auf ein kreisförmiges Loch an der Decke. Es stellte die einzige Lichtquelle in der Nähe dar und spendete gleißendes Sonnenlicht.

„Der Forst von Torrloy sollte euch da draußen bereits erwarten“, meinte Ulom. „Ich denke, jetzt muss ich mich von euch verabschieden. Viel Glück auf eurer Reise!“

Behutsam setzte er Bulo auf den Rücken seiner Gefährtin, die daraufhin ihre Schwingen ausbreitete.

„Vielen Dank für deine Unterstützung!“, verabschiedete sich Leda, bevor sie in die Lüfte emporstieg. Im Nu hatte sie die Öffnung in der violetten Schwammdecke passiert und flog der Außenwelt entgegen, wo bereits die Wipfel eines berüchtigten Waldes warteten.

 

 

♦ Teil 5: Der Forst von Torrloy ♦

 

Eine sanfte, aber eisige Windbrise erfasste Leda, als sie knapp über den undurchdringlich dichten Baumkronen des Forsts von Torrloy flog. Das Ramut-Schloss befand sich bereits in bedrohlicher Nähe, war aber immer noch weit außer Reichweite. Dank ihrer scharfen Augen konnte sie zahlreiche Details der gewaltigen Festung erkennen: glatte Steinwände, zackige Burgzinnen, spitze Dächer, kaskadenartige Treppenanlagen und Fenster, die wie hungrige Mäuler aussahen. Besonders beunruhigend fand sie jedoch das Erscheinungsbild des riesigen Zentralturms. Aus seinem obersten Gemach drang nach wie vor der mysteriöse Lichtschein. Obwohl das Ramut-Schloss nicht mehr weit entfernt war, lag seine tatsächliche Größe immer noch hinter unzähligen Bäumen verborgen.

„Bald sind wir da!“, meldete sich Bulo erfreut. „Schaffst du die Strecke noch, Leda?“

„Ich bin mir nicht sicher“, meinte die Frosteule nachdenklich. „Was machen wir, wenn mich meine Kräfte kurz vor dem Ziel verlassen? Ich würde mich sicherer fühlen, wenn ich mich näher am Boden befände.“

Ein Blick nach unten verriet ihr allerdings, dass die enorm dichten Baumkronen des Waldes ein sicheres Landen verhinderten.

„Sieh nur! Da ist eine Lichtung“, bemerkte der Hamsterkater aufgeregt. Erleichtert erblickte auch Leda die Stelle und ließ sich darauf zugleiten. Behutsam sank sie durch das Loch im Blätterdach, bis sie festen Boden erreichte.

„Hier gefällt es mir nicht“, meinte Bulo, als er seinen flauschigen Kopf nach oben richtete und die knorrigen Baumstämme um ihn herum betrachtete. Sie hatten allesamt eine schwarze, raue Oberfläche. Schon nach einer kleinen Entfernung verschwanden die Umrisse der Bäume in der Dunkelheit.

„Hab keine Angst“, sagte Leda. „Um zum Ramut-Schloss zu gelangen, muss ich nur geradeaus fliegen. Uns wird schon nichts zustoßen!“

Damit erhob sich die Frosteule, breitete ihre Flügel aus und flog mitten in die endlose Schwärze des Forsts von Torrloy.

Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm die undurchdringliche Finsternis kein Ende. Wie Schatten huschten die Baumriesen an ihnen vorbei. Die einzigen Lichtquellen waren ein paar trübe Scheine, die in der Ferne tanzten, und der hellgrüne Kristall an Ledas Halskette. Er schien geringfügig zu pulsieren und strahlte ein kaum wahrnehmbares, gelbliches Licht aus. Weder Leda noch Bulo konnten feststellen, ob es gerade Tag oder Nacht war.

„Bulo, siehst du das?“, fragte Leda plötzlich. „Diese flackernden Lichtscheine in der Ferne … Das müssen kleine Feuer sein!“

Kurze Zeit später erkannte auch der Hamsterkater, was die seltsamen Erscheinungen zu bedeuten hatten. Die Überreste einer verwinkelten Steinmauer tauchten vor den beiden auf. An zahlreichen Stellen befanden sich ovale Nischen, in denen Fackeln auf einer Halterung eingelassen waren. Leda entschied sich, durch einen Torbogen in der Wand zu fliegen und gelangte kurzerhand in ein komplexes System aus Gängen und Mauern. Ruinen von labyrinthischen Steinbauten umgaben sie. Der unregelmäßige Schein der lodernden Fackeln erhellte den Weg, ließ aber auch mysteriöse Schatten an den brüchigen Oberflächen entstehen.

„Wo sind wir? Ist das hier schon ein Teil des Ramut-Schlosses?“, wollte Bulo verängstigt wissen.

„Ich weiß es nicht. Aber das wäre möglich“, vermutete Leda. „Ob hier wohl jemand wohnt?“

Als würde ihre Frage beantwortet werden, tauchte an der rechten Seite eine mächtige Struktur auf. Auch sie bestand aus Stein, war rechtwinkelig und wirkte noch völlig intakt. Sie war höher als die Steinmauern und reichte sogar fast bis in die Baumkronen hinauf. Der Eingang war mit einem dicken Holzbrett verschlossen. Nach einem schwungvollen Stoß mit Ledas Schnabel gab dieses jedoch nach und schwang an einem massiven Gelenk nach innen. Langsam näherte sich die Frosteule den matt beleuchteten Regalen im Inneren des Gemäuers. Sie waren von oben bis unten mit bunten Quadern befüllt und bedeckten sämtliche Innenwände. Diese seltsamen Gegenstände lagen auch am Boden und auf hohen Holztischen herum, wo sie sich in riesigen Stapeln auftürmten. An einem der Tische saß eine aufragende, dünne Gestalt. Sie war in eines der Objekte vertieft, schlug es auf und blätterte in seinen hauchdünnen Seiten herum.

Der schwache Lichtschein von oben stammte von einem breiten Leuchter knapp unter der Decke. Dort saßen einige neugierige Vögel, die Leda und Bulo lautlos musterten. Erst als sich eines der gefiederten Tiere krächzend meldete, wurde die lange Figur am Pult aufmerksam. Ein völlig blasses Gesicht ohne Fell oder Federn kam unter der Kapuze zum Vorschein. Zwei weiße, verengte Augen begutachteten die zwei Abenteurer interessiert.

„Welch Überraschung! Ich bekomme selten Besuch“, drang aus den schmalen, roten Lippen der Figur. „Was bringt euch hier in meine Bibliothek? Euch ist Angst in die Gesichter geschrieben, das sehe ich sofort!“

„Wir sind auf der Reise zum Ramut-Schloss, um die Pläne des bösen Zektomix zu stoppen“, begann Leda sofort zu erzählen. „Das Schicksal von Artumland ist in Gefahr!“

„Soso. Darüber seid ihr also besorgt. Ich bin Xermin, Verwalter der letzten verbliebenen Bücher dieses Landes. Mir sind die Vorhaben des bösen Magiers bekannt. Aber denkt daran, Artumland ist nur ein winziger Teil einer Welt, dessen Name längst vergessen ist. Einer Welt, die glorreiche Zeiten gesehen hat. Einer Welt, die einst von einer Spezies dominiert war, die Paläste, Städte und Schlösser errichtet hat. Ja, auch das Ramut-Schloss haben meine Vorfahren erbaut! Es ist der einzige Ort, an dem wir heute noch verbreitet sind.“

Während Leda nach einer wichtigen Frage suchte, war Bulo sprachlos. Denn Xermin hatte viele Wörter verwendet, die er zum ersten Mal gehört hatte.

„Was wissen Sie noch über das Ramut-Schloss?“, wollte Leda schließlich wissen.

„Die Bezeichnung ‚Schloss‘ ist für Außenstehende wie euch wohl irreführend, schließlich wird nur der Zentralturm als solches genutzt. Es ist eher ein riesiger Komplex, fast schon eine Stadt, und ist weitgehend bevölkert. Vor vielen Generationen lebten hier Arbeiter, die dieses Monument errichtet haben. Während es zunehmend größer wurde, siedelten sie sich in Dörfern rund um die Festung an. Irgendwann wuchs die Burganlage kaum mehr, sie hatte ihre maximale Ausdehnung erreicht. Die Arbeiter sind jedoch geblieben. Befreit von Anweisungen und Ausbeutung leben sie heute in Harmonie.“

„Und wie gelangen wir auf dem sichersten Weg zum Schloss?“, fragte Bulo, der sich mittlerweile aus seiner Starre gelöst hatte. Xermin lächelte wissend und beobachtete das grüne Amulett, das an Ledas Hals baumelte.

„Wenn ihr diesen Raum verlässt, müsst ihr einfach geradeaus weiter. So könnt ihr die Festung nicht übersehen“, erklärte Xermin schließlich. „Wie ich sehe, seid ihr in Eile. Da möchte ich euch nur ungern aufhalten. Ich widme mich nun wieder meinen Büchern. Sie sind uralte Artefakte, Relikte der Zeit, antike Schlüssel zu verlorenem Wissen …“

„Vielen Dank für die Hilfe!“, verabschiedete sich Leda und drehte sich zum Ausgang. Gemeinsam mit Bulo verließ sie die geheimnisvolle Bibliothek, hob sich in die Lüfte und setzte die Reise durch den finsteren Forst von Torrloy fort.

 

 

♦ Teil 6: Das Finale ♦

 

„Wie weit ist es noch?“, fragte Bulo, tief in die Dunkelheit des Waldes starrend.

„Genau kann ich es nicht sagen“, meinte Leda. „Aber es kann nicht mehr weit sein, da bin ich mir sicher!“

Gelegentlich zogen schwarze Baumstämme und Überreste von dicken Steinmauern an ihnen vorbei. Bis auf das Rascheln einiger Blätter und dem vereinzelten Knistern nahegelegener Fackeln war kein Mucks zu hören.

Plötzlich durchbrach Bulo diese schaurige Stille mit einem betrübten Tonfall: „Leda, ich habe nachgedacht. Wir haben eine lange, beschwerliche Reise hinter uns. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich für diese Mission geeignet bin. Bisher habe ich mich immer nur tragen lassen. Je mehr wir uns dem Ramut-Schloss nähern, umso stärker zweifle ich daran, gegen Zektomix auch nur die geringste Chance zu haben …“

„Aber Bulo! Was redest du denn?“, antwortete Leda schockiert. „Du hast zu unserem Abenteuer bereits viel beigetragen. Ohne dich wäre ich bestimmt nicht so weit gekommen. Du entdeckst Dinge, die selbst meine scharfen Augen übersehen. Oktimor hätte dich sonst wohl kaum auf die Reise geschickt, oder? Gemeinsam werden wir Zektomix' bösen Plan durchkreuzen! Wir müssen nur ganz fest an uns glauben.“

Der Hamsterkater schwieg, um das Gesagte zu verarbeiten. Da rief er auf einmal: „Sieh nach oben! Die Baumkronen lichten sich!“

Leda spähte in die Höhe und erkannte, dass das zuvor noch undurchdringliche Blätterdach löchrig geworden war. Dahinter war die tiefschwarze Dunkelheit des Nachthimmels zu sehen. Erfreut über diese Erkenntnis stieg sie schwungvoll aufwärts und flog den ausladenden Wipfeln entgegen.

Der Anblick des mächtigen Zentralturmes raubte beiden Abenteurern den Atem. Steiler als ein Berg und höher als jeder Baum reichte er weit in die Wolken hinauf. Sein pechschwarzer Umriss übertraf sogar die Finsternis der Nacht an Bedrohlichkeit. Er war schon so nahe, nur der Burgkomplex in unmittelbarer Entfernung lag noch vor Leda und Bulo. Aus sicherer Entfernung konnten sie die hochragenden Dächer und Mauern unter ihnen beobachten. Gelegentlich verrieten schwache Lichtscheine aus manchen der vorbeiziehenden Fenster, dass hier Lebewesen wohnten.

Das faszinierte Schweigen der zwei Reisenden wurde von einer krächzenden Stimme aus dem Amulett unterbrochen: „Leda und Bulo! Hört mir gut zu. Ihr müsst direkt in das oberste Gemach des Zentralturms fliegen. Nur so habt ihr die Chance, den schurkenhaften Zektomix zu überraschen und ihm gegenüberzustehen!“

„Woher weiß er, dass wir schon so nahe sind?“, fragte sich Bulo verwundert. Da Oktimor nicht antwortete, vermutete Leda: „Er hat wahrscheinlich ein Fernglas und uns gerade entdeckt. Und jetzt musst du dich gut festhalten, ich werde nämlich steil nach oben fliegen!“

Bulo konnte sich gerade noch an der silbernen Halskette festklammern, als seine Gefährtin rasant nach oben preschte. Mit kräftigen Schwüngen näherte sie sich gleichmäßig dem hochgelegenen Turmzimmer. Die gleißenden Lichtstrahlen, die aus seinen Fenstern drangen, hüllten die Frosteule bereits ein. Erschöpft erreichte sie endlich ein geöffnetes Fenster, als sie den beschwerlichen Aufstieg hinter sich hatte. Benommen ließ sich Leda ins Innere fallen und beäugte die Umgebung.

Das Turmzimmer hatte einen halbkreisförmigen Grundriss und besaß völlig glatte, weiße Wände. Sie wurden von grellen Lampen auf steinernen Sockeln erhellt. Das musste die Ursache der aus der Ferne sichtbaren Lichtstrahlen sein. An der geraden Wand vor den Abenteurern stand ein wuchtiger Thron, prächtiger und majestätischer als alles, was sie jemals gesehen hatten.

In diesem Moment materialisierte sich eine Gestalt vor Leda und Bulo. Wie aus dem Nichts tauchte sie einfach auf, zu ihrem Erstaunen und Verblüffen. Oktimor stand nun vor ihnen, darin bestand kein Zweifel. Er ergriff seine Kapuze und enthüllte sein blasses Gesicht. Schmale, weiße Augen starrten sie boshaft an. Ein hinterhältiges Grinsen zog sich von einem Ohr zum anderen. Es handelte sich hierbei um dieselbe Spezies, der auch Xermin angehörte. Sein Alter schien jedoch deutlich niedriger zu sein. Zudem besaß er eine glänzende Krone, die auf seinem Haupt saß.

„Ich wusste doch, dass ihr in meine geniale Falle tappen würdet!“, gackerte Oktimor hämisch. „Vor euch steht Zektomix, der große Herrscher! Wie gehorsam ihr auf eurer Reise wart, belustigt mich. Der Zauber, den ich in eurer Siedlung verwendet habe, war nur ganz am Anfang notwendig. Ihr habt meine Anweisungen ohne Widerrede befolgt, dabei seid ihr nur auf eure eigene Verdammnis zugelaufen!“

Wie auf ein Stichwort betraten bewaffnete Soldaten den Raum durch Türen an der linken und rechten Seite des Throns. Leda und Bulo verharrten bewegungslos auf ihrem Platz. Sie waren nun völlig hilflos und gefangen.

„Niemand kann meine meisterhaften Pläne durchkreuzen!“, lachte Zektomix schallend. „Ganz Artumland wird mir bald zu Füßen liegen. Alle Bewohner werden dazu gezwungen werden, das Ramut-Schloss zu vergrößern und mich damit noch mächtiger zu machen. Schritt für Schritt wird jeder bis auf mich in Armut leben müssen, am Ende werde ich das Reich in Armutland umbenennen!“

„Aber das muss doch gar nicht sein!“, entgegnete Bulo mutig.

„Du wagst es, den großen Herrscher zu unterbrechen?!“, tobte Zektomix voller Zorn.

„Bitte hört mir zu!“, sprach Bulo tapfer weiter. „Ihr habt ein monumentales Schloss und damit alles, was ihr begehrt. Ihr habt die Möglichkeit, durch das ganze Reich zu reisen und euch am Wohlbefinden der Einwohner zu erfreuen. Erinnert ihr euch noch an unsere Siedlung? Sie ist voll mit Leben und Energie, und doch ist sie nur ein kleiner Bestandteil von Artumland. Eines haben Leda und ich auf unserer Reise gelernt: Es gibt noch viel mehr zu erkunden.“

Zektomix starrte Bulo wortlos an und begann schließlich, sich nachdenklich am Kopf zu kratzen. Dabei verrutschte seine Krone geringfügig. Prompt verblasste seine grimmige Miene. Die Frosteule und der Hamsterkater konnten nicht fassen, was soeben geschehen war. Hatte die Krone etwa eine besitzergreifende Wirkung? Der Magier richtete sein Wort an die Wachen: „Geht.“

Sobald alle Soldaten den Raum verlassen hatten, erhob der Herrscher seine Stimme erneut: „Sagt mir … diese Reise, die ihr hinter euch habt … hat sie euch glücklich gemacht?“

Leda und Bulo nickten eifrig. Sie fürchteten nicht, eine falsche Antwort gegeben zu haben, denn sie waren vollkommen ehrlich. Zektomix blickte die beiden gedankenverloren an. Sein Blick schwenkte in die Ferne, zu einem der Fenster. Beim Anblick der atemberaubenden Aussicht über Artumland flackerten seine Augen lebhaft auf. Schließlich sprach er milde zu den beiden: „Diese Orte, durch die ihr gereist seid wie sehen sie aus der Nähe betrachtet aus?“

„Wundervoll! Besonders die Goldpyramide“, schoss es aus Bulo heraus.
„Das will ich sehen. Kommt zu mir.“

Zögernd traten die beiden vor, unsicher über das, was ihnen bevorstand. Zektomix streckte seine Arme aus und berührte die zwei Wesen behutsam an den Schultern. Augenblicke später lösten sich alle drei in Luft auf. Sie waren soeben teleportiert und befanden sich plötzlich inmitten von schneebedeckten Felsen und Bäumen. Die Trümmersenke lag direkt vor ihnen, unten im Tal war die Goldpyramide zu sehen.

Eine eisige Windbrise erfasste Leda und Bulo, die sie sofort wieder an diesen Ort erinnerte. Sie waren rechtzeitig zum Sonnenaufgang eingetroffen, der soeben hinter dem Gebirgskamm in der Ferne stattfand. Zektomix hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Er starrte verträumt ins lichtüberflutete Tal und die zahlreichen saftigen Pflanzen darin. Einige Zottelbären tummelten sich zwischen den goldenen Würfeln, die lebhaft im Morgenlicht glänzten.

„Wirklich faszinierend“, krächzte der Herrscher leise.

„Bulo, die Krone!“, flüsterte Leda aufgeregt. „Ich weiß nicht wieso, aber sie hat Zektomix unter Kontrolle. Wir müssen sie ihm entreißen.“

Bulo reagierte sofort und kletterte am Umhang des Magiers hinauf. Mit einer schnellen Bewegung kickte er die Krone weg. In hohem Bogen flog sie durch die Luft, landete im Schnee und versank spurlos darin. Zektomix schreckte auf und blickte verwundert um sich. Benommen schüttelte er den Kopf und rieb sich die Augen. Was ist bloß in mich gefahren?“, brachte er schließlich hervor. „Ich … ich muss völlig die Kontrolle über mich verloren haben.

Er warf einen schuldbewussten Blick auf die erstaunten Abenteurer und sprach schließlich  weiter: Leda … Bulo … bitte verzeiht mir. Ich wollte Artumland nie etwas Schlimmes antun. Ihr wollt bestimmt wieder zurück in eure Heimat.

Damit streckte er seine Arme aus, um mit Leda und Bulo erneut zu teleportieren. Mitten auf dem Versammlungsplatz ihrer Siedlung materialisierten sie sich wieder. Viele Tierwesen umgaben sie, die ihr Auftauchen überrascht zur Kenntnis nahmen. Alle Blicke waren gespannt auf die drei Gestalten gerichtet. Eine Erklärung wurde von allen Beteiligten erwartet.

Zektomix trat mit seinem enthüllten Gesicht vor und verkündete fröhlich: „Artumbürger, horcht! Ich habe äußerst erfreuliche Neuigkeiten zu berichten. Zektomix wurde bezwungen! Und zu verdanken haben wir dies nur unseren beiden Helden, Leda und Bulo!“

Die zwei Gefährten konnten ihr Glück kaum fassen, als sie tosenden Applaus von der Menge erhielten. Gemeinsam tauschten sie begeisterte und zufriedene Blicke mit den Anwesenden aus. Und als sie in das strahlende Gesicht von Zektomix blickten, erkannten sie, dass jedes Zeichen von Boshaftigkeit aus seinem Lächeln verschwunden war.