40 Meter

Verfasst: 2022

Wörter: ~1500

 

Sonnenstrahlen brennen durch die große Scheibe der Notausgangstür. Eine Fliege prallt immer wieder gegen das Glas. Sie bleibt im Eck hängen, die Flügel sirren.

„Hast du aufgepasst? Ich rede mit dir!“

Andreas starrt mich an. Die Falten auf seiner Stirn sind mit Schweißperlen übersät. Im Achselbereich seines grünen T-Shirts zeichnen sich dunkle Flecken ab. Ich nicke schnell.

„Schau, es ist ganz einfach.“ Er deutet auf den Brandschutzplan. „Du gehst mit dem Maßband in den hintersten Raum. Der darf nicht weiter als 40 Meter von der Tür weg sein. 40 Meter deshalb, weil das die maximale Fluchtweglänge ist.“

„Ich weiß.“

„Du gehst den Gang entlang, quer durch die Aula, durch den anderen Gang und in das Klassenzimmer da …“

Ich kneife die Augen zusammen. Was für ein unübersichtlicher Plan. Die Wände sind kaum vom Achsraster zu unterscheiden. Wenn dieses Praktikum vorbei ist, will ich solche Pläne nicht mehr sehen. Dann kann ich ja Tischler werden oder so. Es gibt sicher einen Beruf, in dem ich gut bin.

„Nimm!“ Andreas drückt mir ein Maßband in die Hand. Es ist keines von diesen kleinen Dingern, die sich nur zwei oder drei Meter ausrollen lassen und von selbst wieder zurückschnappen. Nein, es ist so eine richtig große Spule. Die Halterung ist aus gelbem Plastik und hat einen langen Griff. „Das geht bis 50 Meter. Wenn du fertig bist, kurbelst du alles schön wieder auf. Soll ich dir zeigen, wie das geht?“

„Ich schaffe das schon. Es ist eine ganz normale Kurbel.“

Er sieht mich mit zusammengepressten Lippen an. „Bei dir bin ich mir da nicht so sicher.“

Ich verkneife mir eine Antwort. Heute darf es keinen Vorfall mehr geben. Warum habe ich nicht besser auf den Druckluftschlauch der Nagelpistole geachtet? Andreas schnappt sich den Anfang des Maßbandes und zieht ihn zur Tür.

„Und wirklich bis ins Eck gehen!“, ruft er mir zu.

„Ja, ja.“

 

Ich gehe los. Das wird nicht lange dauern, Andreas wird schon sehen. Ein kurzer Blick auf das Maßband. Fünf Meter.

Die Doppeltür in den neuen Turnsaal steht offen. Nur die Bodenmarkierungen fehlen noch, die Stellen sind am Rand mit Krepp-Klebeband abgedeckt. Alles müsste heute fertig werden, dann brauche ich diese Baustelle nicht mehr sehen. Ich drehe mich flüchtig zu Andreas um, der mich misstrauisch ansieht. Bestimmt glaubt er wieder, ich konzentriere mich nicht.

Das Maßband flattert leise, während ich es hinter mir herziehe. Ich folge dem Verlauf des Flurs ums Eck. Zehn Meter. Nun liegt die Aula vor mir. Irgendwie seltsam, dass ich hier noch nicht war. Und das nach drei Wochen auf der Baustelle. Zwei Treppenläufe führen aufwärts, dazwischen ist ein Schaukasten. Ich stelle mich davor und sehe Zeichnungen von Kindern. Auf einem großen Zettel sind Wörter kreuz und quer verteilt. Es sind Berufe, von Tierpflegerin bis Konditor ist alles vertreten. In der Mitte die Überschrift: Das werde ich später. Was soll das bringen? So früh weiß man doch nicht, was man wirklich arbeiten möchte.

Ich gehe an einer Säule vorbei, das Maßband wickelt sich herum. 25 Meter. Daneben ist der andere Gang, den ich entlang muss. An der Decke sind milchige Lichtkuppeln angeordnet. Sie erzeugen wellige Reflexionen auf dem abgetretenen Linoleumboden. Eigentlich müsste auch dieser Teil der Schule renoviert werden. War wohl nicht genug Geld da. Ich spüre die Unebenheiten durch die dicken Sohlen meiner Arbeitsschuhe.

Die Tür zur hintersten Klasse steht offen. Es ist ein Werkraum, die Tische sind jeweils mit Schraubstock ausgestattet. Es riecht nach Holzleim und Sägestaub. Im hintersten Eck steht der Lehrertisch, daneben ist noch eine Tür. War die auch auf dem Plan? Ich strecke die Hand nach der Klinke aus. Regale mit Lehrmitteln füllen den Raum, das andere Ende ist in Finsternis gehüllt. Probehalber sehe ich auf das Maßband. 50 Meter. Es ist komplett abgerollt.

Ich atme tief ein. Ist es wärmer geworden? Es riecht komisch, ist das etwa mein Schweiß? Als ich am Maßband ziehe, spüre ich keinen Widerstand. Andreas hat einfach losgelassen. Das war nicht so ausgemacht.

 

Ich lasse das Maßband fallen und schlurfe zurück. Durch das Klassenzimmer, den Gang entlang, in die Aula. Von wo bin ich gekommen? Ich stelle mich in die Mitte, blicke in alle Richtungen. Von dieser Seite sieht die Halle ungewohnt aus. Wohin jetzt? Da sehe ich das Maßband am Boden. Natürlich, so kann ich meinen Weg ganz einfach zurückverfolgen. Warum fällt mir das erst jetzt ein? Vielleicht hat Andreas doch den richtigen Eindruck von mir.

Das Maßband führt einen Gang mit Fliesenboden entlang. Ist das derselbe von vorhin? Bestimmt verwechsle ich was. Es ist ganz leicht, ich muss nur weitergehen. Und Andreas mitteilen, dass die 40 Meter überschritten sind.

Vor einer Tür bleibe ich stehen. Das Maßband führt unten durch den Schlitz. Was soll das jetzt? Erlaubt sich Andreas einen Scherz mit mir? Das ist normalerweise nicht seine Art. Er soll das gefälligst selbst wieder aufrollen. Die Tür führt in einen Umkleideraum. Zwischen den Garderobenbänken ist viel Abstand, die Wände sind in gelber Farbe gestrichen. Ein Plastikmülleimer steht einsam im Eck. Ich folge dem Maßband bis zu einer weiteren Tür, aus der Chlorgeruch hervordringt. Es reicht jetzt langsam. Ich packe die Klinke und betrete eine riesige Halle, die mit weißen Mosaikfliesen eingedeckt ist. Vor mir erstreckt sich ein Sportbecken, bestimmt 50 Meter lang. Das Maßband verläuft geradewegs hinein.

Ich torkle zum Beckenrand. Nein. Das ist alles nur ein böser Traum. Gewaltsam reiße ich am Maßband, ziehe es aus dem Wasser. Doch es hört nicht auf. Ich sauge die feuchte Luft ein, mein Atem zittert. Die Zahlenangaben werden nicht kleiner, sondern größer. Neben der Markierung steht 261 Meter. Ich ziehe mehr aus dem Wasser. 262 Meter. 263. 264. 266. 268. 270. 275. 280 … 290 … 300 Meter. Kein Ende in Sicht.

Gluckernd schwappt Wasser über den Beckenrand. Das bringt doch nichts. Ich trete den Maßbandhaufen mit den Füßen und rapple mich auf. Irgendwie muss ich einen Rückweg finden.

Die gelben Wände des Umkleideraums ziehen an mir vorbei. Warum dauert das so lange, wo ist die Tür? Der Abstand zwischen den Garderobenbänken wird immer größer. Waren die Wände vorhin auch leicht schräg? Das ist jetzt nicht wichtig, gleich habe ich das Ende des Raumes erreicht. Falsch gedacht, es geht ums Eck. Hier sind noch mehr Bänke, dieses Mal in vielen Reihen. Ich renne weiter, bis sich der Raum vergrößert. Garderobenbereiche bilden sich auf mehreren Ebenen, die jeweils um eine Stufe höhenversetzt sind. Alles ist voll mit Bänken, doch in der Ferne sehe ich ein langes Fensterband. Mein Atem rasselt, Schweiß strömt über meinen Rücken. Ich werde immer schneller, meine Schritte hallen mit einem lauten Echo durch den Saal.

Hinter den Fenstern ist Tageslicht. Ich will nur noch raus hier, weg von diesem Ort. Als ich nahe genug bin, erkenne ich den Innenhof. Ich drücke mich ans Glas. Der Hof ist komplett mit Waschbetonplatten ausgekleidet, ein paar Picknicktische stehen herum. Sie sind aus dunkelbraunem, vom Wetter zerfressenem Holz und sehen genauso aus, wie ich sie aus meiner Schule kenne. Der ganze Innenhof wird von Glaspaneelen umgeben, doch nirgends ist ein Ausgang.

Ich gehe einmal außen herum, klopfe gegen die Scheiben. Was mache ich hier bloß? Vielleicht kann ich eine der Garderobenbänke verwenden, um das Glas einzuschlagen. Ich drehe mich um, doch hinter mir ist nur ein leerer Gang. Mit geballten Fäusten renne ich los. So schnell gebe ich nicht auf! Der Korridor verbreitert sich in eine Art Abstellraum. Auf niedrigen Gesimsen stehen Glasflaschen mit Mineralwasser. Ich nehme eine davon und drehe sie in den Händen. Das Etikett sieht vertraut aus, aber statt Text sind wirre Linien abgebildet. Ähnlich wie Buchstaben, und doch unleserlicher Blödsinn. Ich hebe die Flasche über meinen Kopf und schleudere sie zu Boden. Sie zerspringt lautstark, Scherben fliegen in alle Richtungen.

„Hilfe!“ Ich schreie, bis die Kehle schmerzt. Keine Flasche bleibt übrig. Mein verzerrtes Gesicht spiegelt sich im nassen Boden.

 

Ich hasse diesen Ort. Ich hasse die Wände, den Boden, alles. Was habe ich getan, um in diesem Gefängnis zu landen? Meine Hände zittern. Ich halte sie vor das Gesicht. Das kann alles nicht echt sein. Andreas wartet auf mich. Ich werde bald wieder zurückkehren und ihm erzählen, was passiert ist. Zuhause werde ich über alles lachen. Das nächste Schuljahr wird ganz einfach und ich werde genau wissen, wie es danach weitergeht. Langsam taste ich mich an der faserigen Wand entlang.

„Bitte … ich will weg von hier …“

Ich stoße auf einen Durchgang. Er führt in einen … Saal. Einen Turnsaal? Der Boden ist abschüssig. Schief. Mein Kopf dröhnt, ich spüre Übelkeit im Bauch.

Auf allen vieren krieche ich über den Parkettboden. Er ist von einem schleimigen Film überzogen. Das ist … das kann kein Mineralwasser sein. Es ist so steil hier. Viel zu steil. Und glatt. Schon rutsche ich nach unten. Es hört nicht auf, geht immer schneller abwärts. Vielleicht ist es auch besser so. Der Tunnel wird zunehmend finsterer, bis mich die Dunkelheit verschluckt.

Lautes Grollen. Fürchterlicher Gestank benebelt mich. Alles ist nass. Eine Stimme schält sich aus der Ferne, wie aus einem riesigen Maul. Ist das … Andreas?

„Ach, du bist hier“, höre ich die Stimme sagen. Sie imitiert Andreas nur, ist nicht echt. Nichts ist echt. „Ich habe gute Neuigkeiten. Du musst zur nächsten Baustelle nicht mehr mitkommen und darfst zuhause bleiben.“

Unter mir ist kein Boden. Ich schließe die Augen.